Shortlist: Nordkorea
Endstation
Stacheldrahtzaun, Minenwarnschilder und Soldaten in Hochwasserhosen und Sonnenbrillen. Ein Blick auf die schärfst bewachte Grenze der Welt zwischen Süd- und Nordkorea.
Von Bernadette Olderdissen
„In Nepal sprechen wir erst ab 5.000 Meter Seehöhe von Bergsteigen und geben den Bergen auch Namen. Alles darunter ist spazieren gehen.“
Von Martin Zinggl
Alles ist relativ. Vor zwei Tagen dachte ich an Schmerzen zu leiden. Heute fühle ich mich zum Sterben. Aufgrund der Anstrengung sollte ich eigentlich schlafen wie ein Toter, aber verspannte Muskeln in meinen Schultern und lädierte Bandscheiben in meinem Becken erlauben das nicht. Zudem surren über meinem Gesicht zumindest zwei Moskitos, vielleicht aber auch drei. Es ist drei Uhr morgens und draußen prasselt heftiger Regen aufs Wellblechdach. „Das ist der normale Schmerzverlauf eines Treks“, sagte Karen, die Yogalehrerin aus Kalifornien, die mit ihrem ultraleichten Equipment lächelnd an mir vorbei lief. „Am fünften Tag ist das vorbei und dir geht es wieder gut.“ Davon bin ich allerdings noch weit entfernt… Seit drei Tagen marschiere ich nun den Annapurna-Circuit entlang, unter Trekkern die beliebteste Wanderroute der Welt. Rund 20.000 Menschen machen sich jedes Jahr auf, diesen Pfad zu laufen. Nun bin auch ich einer davon. Erstmals möchte ich einen Trek gehen. Ungeübt, ahnunglos und untrainiert. Ein Normalsterblicher sozusagen. Auf meinem Buckel befindet sich mein gesamter Besitz in Form eines zwanzig Kilogramm schweren Rucksacks: Last im doppelten Sinne. „Den Fehler machst du nie wieder!“, sagte Karen. „Glaub’ es mir!“ Tu’ ich gerne. „Verdammter Anfänger“, denke ich. Vor mir liegen 183 Kilometer Fußmarsch, rund eine Million Schritte, einmal gegen den Uhrzeigersinn um das Annapurna-Gebirge herum. Die eine Hälfte bergauf, die andere bergab. Acht Stunden körperliche Schwerstarbeit jeden Tag.
„Warum bin ich hier?“, frage ich mich. „Warum ist überhaupt irgendjemand hier? Was haben Menschen nur auf Bergen verloren?“
Simon, der britische Önologe, Yves, der französische Triathlonläufer mitsamt Thibault, seinem autistischen, neunjährigen Sohn, Francesco, der italienische Finanzberater oder Tatjana, die deutsche Yachtlackeverkäuferin, die gerade erst von ihrer Stelle gefeuert wurde? Ständig laufen wir uns über den Weg, gehen manchmal ein Stück gemeinsam, spätestens am Abend aber sitzen wir zusammen in einem der Gasthäuser, unterhalten uns, spielen Karten, werden Freunde auf Zeit. Für die nächsten Tage und Wochen sind wir unzertrennliche Wegbegleiter. Sie alle haben unterschiedliche Gründe und Motive, diesen Weg zu gehen: der Annapurna sei kostengünstig, familienfreundlich, zeitlos, machbar oder landschaftlich reizvoll. Nur eines ist ihnen allen gemeinsam: die spirituelle Reise. Die einen nennen es „Aussteigen“ oder „Selbstfindungs-Trek“, die anderen „sich Zeit nehmen, um etwas zu verarbeiten oder über etwas nachzudenken.“ Der Annapurna als Hafen der verlorenen Seelen? Simon hat die Lust am Wein produzieren verloren und sucht im Buddhismus nach Antworten auf das „Warum?“. Yves will zu sportlichen Höchstleistungen und zu seinem hyperaktiven Sohn finden. Tatjana ist mit ihrem Leben in der westeuropäischen Seifenblase unglücklich und sucht nach einer neuen Lebensaufgabe und Francesco überlegt, ob er die Stelle als überbezahlter Hedgefonds-Berater in Mailand wirklich annehmen soll oder nicht. Und ich? Auch ich bin auf der Suche Antworten auf offene Lebensfragen zu finden, erwarte mir aber nicht, sie auf einem Berg unter Ächzen und Krächzen zu finden. Vorerst aber suche ich einen Weg, um Gewicht aus meinem Rucksack zu reduzieren. Zum zehnten Mal gehe ich im Geiste durch, welche Gegenstände ich zurücklassen könnte, um die nächsten zwei bis drei Wochen irgendwie zu erleichtern.
Schließlich schlafe ich mit dem Rauschen des Flusses Marsyangdi ein, der uns noch eine ganze Weile begleiten wird, ehe mich ein kitzelndes Krabbeln zwischen meinen Schenkeln wieder aufweckt. Zunächst ignoriere ich es, aber beim zweiten Mal bin ich sicher: Da ist etwas in meinem Schlafsack. Panik. Licht an. Reißverschluss auf. Atemnot. Meine Unterhose ist blutgetränkt und an meinem Bein windet sich ein schwarzes, ekliges Ungeheuer. Ein Blutegel hat mich angezapft und ausgesaugt, viel zu nah an der empfindlichsten Stelle des Mannes. Die Wunde hört nicht auf zu bluten. Ich verfluche den Blutegel, meinen Rucksack, diesen Trek, die ewige Suche nach Antworten. Am nächsten Tag lasse ich ein Paar stinkende Socken und eine blutgetrocknete Unterhose zurück. Wenn’s gut geht ein Viertelkilo, immerhin.
Verzweifelte Zeiten schreien nach verzweifelten Taten. Die Erdbeben im Frühjahr 2015 haben die Touristen verschreckt, nach Nepal zu reisen, und gleichzeitig deprimierte Nepalesen hinterlassen, die einen saisonalen „Massentourismus“ am Annapurna gewöhnt waren. So aussichtslose Gastronomen, dass die Bewohner sogar Dorfnamen mitten im Nirgendwo fälschen, um die wenigen Trekker in ihre Unterkünfte zu locken. Die Enttäuschung schließlich festzustellen, dass das eigentliche Dorf erst eineinhalb Stunden später, drei Ortschaften weiter, erscheint, ist groß – und dieses Verhalten der sonst sehr ehrlichen und großzügigen Nepalesen unwürdig. Ich habe Mitleid mit den Bewohnern, die unter den Folgen der Beben leiden und mit allen Mitteln versuchen, Tourismus und Wirtschaft in ihrem verkorksten Land wieder anzukurbeln. Ich stelle mir die Frage, ob diese temporären Invasoren, die jährlich den Annapurna stürmen eine willkommene Einnahmequelle für die Nepalesen oder vielmehr eine üble Erinnerung an jenen Luxus sind, den sich viele Bewohner nicht leisten können. Beinahe jede Herberge bietet für nepalesische Unsummen „Luxusgüter“ an: Bier, Schokoriegel, Kartoffelchips, Steaks. All diese Produkte werden von den Bewohnern per Rückentransport auf den Circuit gebracht, auf ebenjener Strecke, die seit Jahrhunderten eine Handelsroute zwischen Nepal und Tibet darstellt. Von Greisen, Frauen und Kindern, die nur einen Steinwurf entfernt von der Route hausen und dort versuchen dem kargen Boden etwas Nahrung abzuringen und mit einer herzlichen Geste zum Tee einladen – und dennoch erfahren meine internationalen Trekkingfreunde und ich kaum etwas über sie während des gesamten Treks. Als ob zwei Parallelwelten nebeneinander existieren.
Sechs Tage bin ich nun unterwegs und die Prophezeiung der Yogalehrerin Karen hat sich bewahrheitet: am fünften Tag verschmolzen die Schmerzen in den Schultern mit den Riemen des Rucksacks, und ich kann nun nicht mehr zwischen Taubheit und Leiden unterscheiden. Die Natur entschädigt jedoch für die körperliche Mühsal und geizt nicht mit Schönheiten. Manchmal sind die Wege am Annapurna-Circuit so ungetreten, die Natur so unberührt, dass man meint, sich verlaufen haben zu müssen. Und verloren gehen kann man in der Idylle dieses Jurassic Park anmutenden Szenarios andauernd: in den Tiefen der Wasserfälle, den saftgrünen Hügeln, den nebligen Gipfeln, die Schritt für Schritt ein Stück mehr herausragen. Ja, hin und wieder verirrt sich ein Strommasten, eine leere Chipstüte oder der Verschluss einer PET-Flasche in den Sucher der Kamera. Kleine Schönheitsfehler, die stören, aber so genau sieht kaum jemand hin. Die Tage beginnen mit Sonnenanbeterinnen, die im Morgengrauen ihre rituelle Reinigung absolvieren und enden mit Grillen, die mich in den Schlaf zirpen. Und ja, dazwischen gibt es Ameisen im Kartoffelpüree, Monsterspinnen am Plumpsklo und nervtötende Fliegen, die vor den Augen herumsurren. Aber weder die drückenden Schuhe, noch die Blasen an den Füßen oder das Gewicht des viel zu schweren Rucksacks können die Laune verderben. Ich wandere, klettere und wate über Trampelpfade und Schotterwege, durch Bergbäche und Marihuanafelder, Schluchten und tibetische Flüchtlingslager, Gespenster- und Märchenwälder, Reisterrassen und Apfelgärten, Hängebrücken und Nischen in Felswänden. Auf Bambus folgt Moos, auf Nadelbäume folgt Laub, auf Rhododendron folgen Sanddornbüsche. Trekking ist meditativ: Kein Denken und kein Fürchten. Einfach einen Fuß vor den anderen setzen und dabei die Sohlen des Vordermanns im Auge behalten. So legt man nicht nur unglaubliche Distanzen zurück, sondern hält auch den Geist frei, verliert jegliches Zeit- und Raumgefühl.
„Stifte oder Süßigkeiten“, verlangen die umherlaufenden Kinder in den Dörfern. Erst an dritter Stelle fragen sie nach Geld. Ein ganz besonders hartnäckiger Bursche fällt mir um die Knie und lässt nicht los, ehe ich ihm getrocknete Papayas gebe. Freudig läuft er zu seinen Freunden. Kurz darauf verfolgt mich eine Horde zuckersüchtiger Kinder.
Die allabendlichen Gespräche in den Herbergen wiederholen sich: „Woher kommst du? Wie lange bist du schon hier? Das erste Mal in Nepal?“ Trekker aus aller Welt sitzen beisammen, studieren Karten und Routen oder laden Bilder auf ihre Facebook-Seiten hoch. Auch die Speisen sind überall die gleichen: Linsenbrei mit Reis, Apfelpfannkuchen, Rösti, Knoblauchsuppe, Nudeln, Kartoffeln, Karotten und Kohl. Sogar die lieblosen, klaustrophobisch-kleinen Zimmer sehen in jedem Gasthaus gleich aus: kein Waschbecken, keine Kleiderhaken, dünne Wände, keinerlei Komfort. Und auch die Preise sind von Dorf zu Dorf die gleichen. Standardfragen, Standardspeisen, Standardpreise – kein Platz für Innovation und Individualismus. Der gesamte Tagesablauf wiederholt sich ständig und wird zur Routine – vom Läuten des Weckers um 6 Uhr bis zum Schlafengehen um 19 Uhr: einpacken, essen, marschieren, essen, marschieren, essen, auspacken, ruhen. Dieser Rhythmus diktiert den Alltag. Selbst die landschaftlichen Eindrücke sind immer wieder die gleichen: wenige, dafür wirken sie umso stärker auf mich.
Nachdem die Flasche mit dem Desinfektionsmittel gebrochen ist und ich nun auch die beiden letzten Guaven aus meinem Vorrat gegessen habe, ist mein Rucksack wieder einen Viertelkilo leichter. Am Abend schenkt mir eine Dorfbewohnerin in einer herzlichen Geste zwei Äpfel. Ich freue mich über die Geste, verfluche aber ihr Geschenk.
Drei Uhr früh. Ich liege hellwach in meinem Schlafsack und friere bei minus zwölf Grad, Ende Oktober – dabei sollte nun die beste Zeit für diesen Trek sein. Letztes Jahr verlief die Saison ähnlich und meterhoher Neuschnee, sowie Lawinenabgänge legten den Circuit für einige Tage lahm. Ganze Dörfer waren eingeschneit, 43 Menschen starben. Aus dem vereisten Wasserhahn tropft es und draußen tobt ein Schneesturm, über den sich viele Yaks durch lautes Brummen seit Stunden beschweren. Dazwischen fressen sie den Kohl aus den Gärten. In der Ferne donnern Lawinenabgänge, sodass die an den Rändern angelaufenen Fensterscheiben leicht vibrieren. Ich bin in Manang, dem Ende der befahrbaren Straße. Von hier aus kann man in drei Tagen den Thorong-La Pass überqueren – sofern die Wettergötter mitspielen. Zu Fuß oder auf einem Pferd. Für die nächsten drei Tage sind wir vorerst eingeschneit.
Ich habe die ersten Anzeichen von Höhenkrankheit: mein Herz rast unnatürlich schnell, mir brummt der Kopf, das Gaumenzäpfchen klebt am Rachen fest, die Beine wiegen schwer und jeder Muskel schmerzt. Mein Körper versucht jene Höhenmeter aufzuholen und zu verarbeiten, die ich in den vergangenen Tagen marschiert bin. Kaum zu glauben, aber diese körperliche, wie geistige Tortur erfreut sich größter Beliebtheit und hat einen eigenen Namen: Trekking.
Meine internationalen Wegbegleiter und ich sehen einen Film in einem der vielen improvisierten Kinos von Manang. Der Kinobetreiber bringt jedem Zuseher schwere Wolldecken, einen Sack mit Popcorn, sowie eine Schale Grünen Tee und entzündet ein Feuer im Holzofen inmitten des Raums. Auf ein gespanntes Leintuch projiziert, läuft eine schlechte Raubkopie von „Sieben Jahre in Tibet“. Heinrich Harrer, verkörpert durch einen engelblonden Brad Pitt, schwärmt von den Bergen während er geistesabwesend in die Ferne starrt: „Das absolut Elementare fasziniert mich daran… der Geist ist völlig klar, frei von allen Verwirrungen, voll konzentriert. Und plötzlich erscheint einem das Licht viel intensiver, die Klänge reicher. Man ist erfüllt von der tiefen und mächtigen Gegenwart des Lebens.“ Auch wenn ich die Affinität zu Bergen meines Landsmannes nicht teile, packt auch mich irgendwie der Höhenrausch. Mein Ziel? Die Annapurna-Gipfel in voller Pracht sehen und Thorong-La zu überqueren, warum auch immer. Die eigene Grenze ausloten und erfahren, wie weit ich komme, wie mein Körper auf über 5.400 Seehöhe reagiert.
Zum wiederholten Male entlade ich meinen Rucksack und versuche auf Grammbasis Gewicht abzubauen. Aussortiert werden eine lange Unterhose, Seife und die Kartonschachtel der Müsliriegel. Ich zögere bei William Faulkners Buch „Schall und Wahn“, bringe es schlussendlich aber doch nicht übers Herz. Trotzdem: wieder ein Viertelkilo.
Alles ist relativ – auch Schlaf und Temperaturen. Eingemummt in sieben Schichten erfahre ich die kälteste Nacht meines Lebens. An Nachtruhe ist in diesen eisigen Höhen nicht einmal annähernd zu denken. Das Holzbett knarrt bei jeder Bewegung und der Mondschein leuchtet genau auf mein Gesicht. Ich bin besorgt und angespannt, blicke aber aufgeregt dem Ende der Anstrengung entgegen. Körper und Geist sind im Zwiespalt: die Vernunft will diese Tortur beenden, indem ich den Pass überquere. Äußere Umstände machen das Unterfangen jedoch zur riskanten Lebensaufgabe. Ich muss dringend pinkeln, unterdrücke aber den Drang, denn in dem kurzen Augenblick der Abwesenheit würde der langwierige Aufwand des Schlafsackaufwärmens zunichte gemacht.
Seit sechs Tagen habe ich mich nun schon nicht mehr gewaschen. Meine Haare stinken und ich grüble erfolglos nach, woran mich der harzige Geruch erinnert. Am nächsten kommt der Gestank den verbrannten Yakfladen, die dezent den Weg markieren und mit denen in den Stuben geheizt wird. Die nationale Benzinkrise (ausgelöst durch einen politischen Disput zwischen Nepal und seinem „großen Bruder“ Indien) und die damit verbundenen, astronomisch hohen Warmwasserkosten sind eine willkommene Entschuldigung für meine mangelnde Hygiene. In Wahrheit aber ist es eine Kombination aus Kälte und mittlerweile gewonnene Gewohnheit, die selbst Katzenwäsche als Herausforderung entpuppen lassen und in der Prioritätenliste weit nach hinten reihen. In den ersten Tagen des Treks ekelte es mich vor jenen Wanderern, die aus der entgegenkommenden Richtung den Annapurna-Circuit marschiert waren. Einerseits waren sie beinahe am Ziel, während mir noch alles bevor stand. Andererseits hinterließen sie eine strenge Duftnote. Nur Tage später, bin ich einer von ihnen mit dem beißenden Körpergeruch, der sich aus Schweiß, Schmutz und Anstrengung zusammensetzt. Längst ist meine Unterwäsche zu einer zweiten Haut verschmolzen.
Um drei Uhr früh machen wir uns auf den Weg zum Pass.
Die Nacht ist klar und der Mond bringt Licht ins Dunkel. Auf dem Serpentinenweg bergauf flackern Stirnlampen in Gänsemarschlinie und Gleichschritt. Die ersten zwei Stunden sind eisig, aber ich halte durch. Mit dem Eintreffen der ersten Sonnenstrahlen wird es zwar wärmer, meine Ausdauer baut jedoch rasant ab. Während sich die Gipfel langsam aus dem Dunkel schälen, wird die Luft immer dünner, die Schritte kürzer, mein Gang langsamer, Atmen immer schwerer. Vor mir erbricht sich ein koreanischer Trekker. Nur nicht Stehenbleiben sonst fängt das Frieren an. Immer weiter, langsam, aber stetig. Meine Organe verkrampfen, die Lungen stechen bei jedem Atemzug, der Kopf droht zu explodieren. In meinen Beinen fühle ich ein Kribbeln, als ob eine eiskalte Ameisenherde durch meine Venen marschieren würde. Meine Zehen sind längst taub. Trotz Appetitlosigkeit zwinge ich mich im Stundentakt einen Müsliriegel zu essen. Um mich herum rekeln sich die schneebedeckten Gipfel der Annapurna-Kette. Dazwischen blitzen violette Flecken auf. „Seht ihr die auch?“, frage ich Tatjana und Francesco. Kopfschütteln. Sorgvolle Gesichter. Ich bekomme Angst. Aufgeben? Zurückkehren? Wo ist der klare Geist, von dem Kollege Harrer gesprochen hat? Die reichen Klänge und das intensive Licht? Ich befinde mich irgendwo zwischen Himmel und Erde, aber paradiesisch ist hier nichts. Mir fehlen noch einhundert Höhenmeter zum Pass. Ich giere nach mehr und will es wissen. Durchbeißen!
Schließlich erreiche ich irgendwie das Ziel. Es ist kurz vor zehn Uhr. Simon hat ihn längst überquert. Yves und Thibault sind noch irgendwo auf der Strecke hinter mir. Tatjana und Francesco machen ein paar Erinnerungsfotos. Tibetische Gebetsfahnen flattern im pfeifenden Wind. Nepalesische Träger und Führer schlürfen brühend heißen Milchtee, zwei Israelis kiffen bis zum Umfallen und eine Gruppe japanischer Trekker schießt Selfies vor der „Thorong-La“-Plakette. „GRATULIERE!“, steht darauf geschrieben. „Du hast es geschafft: 5.416 Meter.“ Viel näher kann man dem Herrgott nicht mehr kommen – höchstens am Mount Everest, aber das ist eine andere Geschichte.
Ich blicke auf ein weißes Nichts – und doch auf Alles. Tränen der Freude überwältigen mich, ehe alles in mir zusammensackt. Ich habe am Limit gekratzt und büße nun dafür. So schnell wie nur möglich muss ich hinunter. Als ob ich meine gesamte Kraft und Energie auf diesen kurzen Moment zusammen gestaut hätte, brechen nun alle Dämme. Ich habe Fieber und Schüttelfrost, übergebe mich und versuche zumindest den Durchfall zurück zu halten. Meine Augen schwellen an und tränen unablässig, sodass die Sicht verschwimmt. Wie ferngesteuert setze ich einen Fuß vor den anderen, rutsche den knietief-verschneiten Hang hinunter, stürze mehrfach zur Seite ins Leere. Die Sonne brennt unermüdlich herab. Alle paar Minuten bleibe ich kraft- und lustlos sitzen. „Du musst hinunter“, sagt die Vernunft. „Verpiss dich!“, antworte ich genervt. „Ich kann nicht mehr.“ Noch einmal übergebe ich mich, bevor der Abstieg weiter geht. Fünf lange Stunden quäle ich mich hinunter, taumle Meter für Meter, bis die Erlösung in Form der ersten Siedlung am Horizont auftaucht. Von einem Schritt auf den nächsten endet der Schnee und ich betrete das trockene Terrain des ehemaligen Königreichs Mustang.
Die Luft ist raus, der Trek neigt sich dem Ende zu – und das ist auch gut so. Die Flasche mit dem Haarshampoo ist im Rucksack ausgeronnen, die letzten Müsliriegel sind verputzt und es gibt keine saubere Wäsche mehr. Alle Zeichen stehen auf Ende. Linsenbrei mit Reis kann ich nun wirklich nicht mehr sehen, und meine aufgesprungenen Lippen heilen nur spärlich zusammen, sodass jeder Bissen schmerzt.
Ein Schleier der Trauer und Motivationslosigkeit hängt über der Gruppe. Simon hat vor zwei Tagen den Bus bestiegen, da ihn der Reiz des Circuits nach der Überquerung des Passes verlassen hat. Tatjana weint dem Aufstieg nach, Yves bleibt bei seinem Sohn Thibault, der nicht mehr aus dem Bett kommt und Francesco trottet still vor sich hin. Alle sind erschöpft und erleichtert, hochzufrieden, aber ratlos. Was folgt nun? Das echte Leben wartet wieder auf jeden von uns und irgendwie hat der Annapurna Trek etwas in uns ausgelöst: Simon geht für einen Monat in ein buddhistisches Kloster, Yves besteigt später mit seinem neunjährigen Sohn das Everest Base Camp, Francesco wird nach Bangladesch fliegen um mit Mikrokrediten für arme Menschen zu arbeiten und Tatjana bleibt in Nepal, um Freiwilligendienst zu leisten.
Ich habe, wie erwartet, keine Antworten gefunden, weiß aber, dass ich beim nächsten Trek anders packen muss.
Ein letztes Mal belade ich meinen Rucksack, der nur mehr 17 Kilogramm hat. Ich habe jeden einzelnen Gegenstand darin genutzt, verbraucht oder entsorgt. Die Last war es wert.
Es geht bergab. Parallel zum Pfad, auf der gegenüberliegenden Seite, durch den tobenden Fluss Kali Gandaki getrennt, führt eine Straße. Hupende Lastwägen erinnern daran, wie nahe wir nun wieder der Zivilisation sind. Seitdem die Straße vor acht Jahren gebaut wurde, lässt sich nun mit Trekkern keine goldene Nase mehr verdienen. Restaurants und Gasthäuser stehen hier leer – auch in guten Jahren. Zwei Träger kommen uns entgegen – in Sandalen und kurzen Hosen. Nepalesen sind frostfest, wenngleich viele von ihnen aus dem niedrig gelegenen und subtropisch-heißen Terai kommen. Beide tragen je vierzig Kilogramm schwere Lasten auf ihren Rücken. Leichtfüßig, anstandslos und zufrieden. Mit jedem Schritt durch das Gebüsch strecken neugierige Eidechsen ihre Köpfe hervor, bevor sie sich eilig davon machen. Weit dahinter folgen zwei westliche Trekker, in voller Ausrüstung: Bergschuhe, wasserabweisende Hose, Gehstöcke, schicke Sonnenbrillen. Was ihnen fehlt: Rucksäcke. Als wir sie passieren, kann ich ihre naserümpfenden Blicke in meinem Nacken fühlen.
Sie sind angewidert von dem beißenden Geruch, den wir hinterlassen.
Martin Zinggl, geboren 1983 in Wien, ist freiberuflicher Reporter, Filmemacher und Ethnologe. Er lebt mal hier und mal dort – und derzeit in Amsterdam. Seit 2007 schreibt und fotografiert er für österreichische und internationale Medien. Mit “Ärzte ohne Grenzen” besucht er diverse Krisenherde. 2013 erschien sein Erstlingswerk “Warum nicht Mariazell? Als Ethnologe in Tuvalu” (Abera, Hamburg). Brandaktuell erschienen ist seine “Lesereise Nepal. Im Land der stillen Helden” bei Picus (Wien).
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Stacheldrahtzaun, Minenwarnschilder und Soldaten in Hochwasserhosen und Sonnenbrillen. Ein Blick auf die schärfst bewachte Grenze der Welt zwischen Süd- und Nordkorea.
Von Bernadette Olderdissen
„Nun ja“ sagt der Russe. „Ich glaube dir nicht. Du bist bestimmt eine Spionin. Aber das ist mir egal, solange ich mein Geld bekomme.“
Von Charlotte Meyn
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