Ich wache auf. Mir tut alles weh. Gefühlt hab ich eine Stunde geschlafen. Das Schnarchen meiner vier anderen Zimmergenossen hat mich trotz meines Schlafbedürfnisses wach gehalten. Wenn man sich zu fünft ein extrem kleines Zimmer in einer Lehmhütte teilt, wir sprechen von etwa zehn Quadratmetern, hilft auch Ohropax nichts mehr.
Das Bett fühlt sich an als wäre es aus Stein. Die fehlende Matratze auf der Holzplatte hat wohl diesen Eindruck bei mir verursacht. Außerdem muss ich aufs Klo. Schon die ganze Nacht, ich hab mich aber nicht getraut, weil es keinen Strom gibt und es hier nachts stockfinster ist. Das Klo bzw. der Verschlag mit einem Loch im Boden ist draußen und bereits bei Tageslicht nicht so besonders einladend. Im Dunkeln würde man zwar nicht so viele Details sehen, aber ich bin unsicher, ob das nicht eher von Nachteil wäre.
Als ich im Klo bin merke ich, dass mir Pinkeln in der Hocke gerade viel zu anstrengend ist. Es zieht in den Oberschenkeln, zum Festhalten gibt’s auch nichts. Der Gestank, die Fliegen und meine Angst vor dem, was hier gleich alles auf mich zu krabbeln könnte, während ich mit heruntergelassenen Hosen über dem Loch hänge, hilft auch nicht wirklich, das Prozedere zu beschleunigen.
Der Rest schläft noch. Ich weiß nicht, wie spät es ist. Ich lege mich zurück auf meine Holzbank alias Bett. Eigentlich schlafen hier Mutter mit Baby, sie hatten extra für uns das Doppelbett geräumt. Unser schlechtes Gewissen deswegen versuchen wir zu verdrängen, wirklich was dran ändern können wir ja eh nicht. Eine solche Geste der Gastfreundschaft auszuschlagen, würde hier als Beleidigung aufgefasst werden.
Das Bett – unser Schlafplatz.
Die Uhr funktioniert gerade nicht.
Das blaue Holzhaus.
Ein Bett steht auf der Veranda.
Das Haus ist aus einfachen Materialien gebaut: Lehm, Holz und Wellblech.
Diese zehn Quadratmeter sind das ganze Haus einer Familie. Ein Raum, ummauert aus Lehm, mit Wellblech und Stroh gedeckt, ohne Fenster. Es steht noch ein weiteres Einzelbett im Raum, jetzt schläft dort einer von Bobbys Freunden. Unter den Betten ist das gesamte Hab und Gut der Familie verstaut. Geschirr, Küchenutensilien, Decken und Klamotten.
Gekocht wird auf der Veranda auf einer Gasflamme. Da befindet sich auch noch ein drittes Bett, wo Bobby mit einem weiteren Freund schläft. Ich frage mich: was passiert, wenn Monsun ist – schmilzt das Lehmhaus nicht einfach dahin?
Johannes wacht auf.
„Wir wohnen in einem Palast“, sind die ersten Worte, die ich seinem „Guten Morgen“ entgegne.
Zu Hause in Berlin haben wir 80 Quadratmeter für zwei Personen, drei Zimmer, Küche, Bad und Gäste WC. Strom, fließendes Warm-Wasser, Heizung, Sanitäranlagen, eben all das, was für uns völlig normal ist und hier ein absoluter Luxus wäre.
Ich habe die Kinder der Familie wahnsinnig lieb gewonnen, obwohl die Kommunikation schier unmöglich war.
Ich spreche kein Bengalisch, die Kinder kein Englisch.
Er wollte mir aber einfach nicht glauben, dass ich kein Bengalisch verstehe und quasselte wie ein Wasserfall auf mich ein.
Diesem süßen Baby haben wir das Bett geklaut.
Trotz mehrmaligem Versuch habe ich den Verwandtschaftsgrad der Kinder zueinander einfach nicht verstanden.
Das blaue Holzhaus ist etwas größer, beherbergt aber auch mindestens 15 Personen. Individueller Platzanspruch und Komfort wie ein eigenes Bett existieren hier nicht. Decken werden abends auf den Boden gelegt und bieten eben so vielen Menschen wie nötig Platz. Ich frage mich, wann man hier eigentlich dazu kommt Kinder zu zeugen, so ohne jegliche Privatsphäre.
Für den Wasserbedarf bedient man sich aus der angrenzenden eigenen Fischfarm. Die Kinder tauchen ohne zu zögern ihre Zahnbürsten in das trübe Wasser. „Oh mein Gott, nicht!“ will ich schreien, aber unterdrücke meinen intuitiven Reflex. Das ist hier normal.
Normal – was für ein relativer Begriff, dabei soll er doch das allgemein Übliche bedeuten.
Jede Gesellschaft, jedes Land hat offensichtlich seine eigene Allgemeinheit, seine eigene Normalität. Die Lebensbedingungen von Bobbys Familie sind hier eben normal.
Das einzige befestigte private Haus in der Umgebung gehört einem Familienfreund. Er besitzt mehrere Fischfarmen, auch Krebse und Garnelen züchtet er, das Business läuft richtig gut. Er hat ein zweistöckiges Haus, einen großen Gemüse- und Blumengarten mit Zierteich und jede Menge Kokospalmen.
Wir bekommen eine ausführliche Führung durch das Haus mit Küche, WC und Bad. Johannes geht mit dem Hausherren, ich mit der Hausdame, damit keine Missverständnisse entstehen, weil uns auch das möblierte Schlafzimmer im zweiten Stock stolz präsentiert wird. Einen Wasseranschluss gibt es noch nicht, aber Glühbirnen hängen im Erdgeschoss vereinzelt an der Decke.
Als Snack wird Fisch-Masala gereicht und so viel frisches Kokosnusswasser wie wir wollen.
Die Familie steckt den gesamten Gewinn in den Ausbau des Hauses, für schlechte Zeiten wird nichts zurückgelegt, erzählt uns Bobby – dass die Familie zeitweise hungert, wenn die Fischzucht zu gering ausfällt, sieht man ihrem Status nicht an.
Der Hausherr mit seinem Sohn und einer gerade extra für mich vom Baum geholten Kokosnuss, obwohl ich vehement versuchte deutlich zu machen, dass das wirklich nicht nötig sei.
Fisch-Masala. Prädikat: lecker und scharf.
Die Hausdame und ich…
und ihre Mutter. Es ist in Bangladesch üblich, dass man mit seinen Eltern zusammenlebt.
Neugierige Zuschauer und Bobby (ganz rechts). Hier agiert man frei nach dem Motto Jeder fotografiert jeden.
Wir brechen auf Richtung Khulna, zurück in die Stadt. Unsere drei Tage auf dem Land sind vorbei, irgendwie ging alles sehr schnell und doch hab ich so viele intensive Eindrücke wie selten gewonnen.
Im Westen neigen wir dazu aus unseren bequemen Sesseln heraus die Bangladeschis für das Ausrotten des Tigers in den Sundarbans zu verurteilen ohne uns mit der tatsächlichen Situation aller vor Ort auseinanderzusetzen. Meine Begegnungen mit den Anwohnern haben mir einmal mehr gezeigt, dass jede Thematik zwei ernst zu nehmende Seiten hat. Erst ein ganzheitlicher Lösungsansatz wie ihn das Wildteam mit dem Projekt „Mother Sundarbans“ verfolgt, kann zu einer zufriedenstellenden Lösung führen.

Ich bin glücklich, es war eine anstrengende aber wundervolle Zeit mit Bobbys Familie, die uns am Ende sogar noch zum Weihnachtsfest einlud. Das Angebot lockt mich ein wenig, weil es hier tatsächlich um das Beisammensein ginge, ohne Diskussionen um Essen, Geschenke und Dekoration. Allerdings könnten wir es nicht entspannt genießen, wenn wir das Haus der Familie auch noch über die Feiertage blockieren würden. Ich bin ganz sicher, auch wenn sie es sich nicht haben anmerken lassen, dass sich alle wieder auf ihre Betten freuen.
So, wie ich mich freute wieder im Hotel zu sein, mich auf ein gepolstertes Bett zu legen, auf einer Toilette zu sitzen und die schönste Dusche meines Lebens zu nehmen.
Noch nie hab ich heißes fließendes Wasser so sehr zu schätzen gewusst.
* * *
Leserpost
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Tantchen on 27. April 2015
Hallohallo, das war ein sehr, sehr, sehr schöner Bericht über Bangla Desch!!!!!!!!!!! Hat mir sehr gut gefallen, besonders die Eindrücke über die Otterfischerei…. Gut, daß ihr den Tiger nicht gesehen habt, denn dann wäre er ja nicht mehr so geheimnisvoll….
Liebe Grüße
Tantchen
Marianna on 27. April 2015
Hallo!
Ganz herzlichen Dank, freut mich sehr, dass dir der Bericht gefällt.
LG
Marianna
Philipp on 27. April 2015
Ein feiner Artikel. Dem Tantchen kann ich nur zustimmen: gut, dass Ihr den Tiger nicht zu Gesicht oder gar ins Gesicht bekamt. Liebste Grüße! Philipp
Marianna on 29. April 2015
Hallo Philipp,
danke dir! Mhh… vielleicht besser, mögt ihr Recht haben.
LG
Traveling Shapy on 3. Mai 2015
Das nenn ich mal Reiseberichte 2.0 einfach überragend kann man nicht anders sagen. Hat bestimmt einiges an Zeit und Arbeit gekostet das schöne Ding fertig zu stellen, aber hat sich auf jeden Fall rentiert.
Viele Grüße
Matthias
Marianna on 4. Mai 2015
Hallo Matthias,
tausend Dank für dein liebes Feedback! Ja, das kostet einiges an Zeit und Arbeit, aber es macht Spaß, vor allem wenn so nettes wertschätzende Kommentare zurück kommen. Merci!
Weiterhin viel Spaß beim Reisen wünsch ich dir.
LG
Marianna
István Jankovits on 22. Mai 2015
Reading through your lines, I felt the humid hot air and the scent of masala… Beautiful writing, unique interviews, fascinating colors.
More than nice to have visited Sundarbans through your article, felt myself in Dhaka-Sylhet-Khulna-Chittagong-Cox’s Bazaar … today … after more than 30 years
Every best wish,
istvan
Marianna on 16. Juni 2015
Hi István,
thank you very much for your great feedback!
Ewa on 7. Juni 2015
Hallo liebe Marianna,
wow…ich bin gerade so beeindruckt von deinem Reisebericht! Der Wahnsinn! Großartig! Bewegend!
Ich habe gerade Lust auch so etwas zu machen, jetzt und sofort! Am liebsten würde ich einfach nur raus und all die Eindrücke auch erleben wollen. Ich liebe solche Berichte zu lesen und ich liebe es zu reisen!
Ich würde bei Gelegenheit gerne mehr von dir und deinem Leben erfahren!
Viele liebe Grüße :-)
Marianna on 16. Juni 2015
Hallo Ewa,
tausend Dank für deinen herzlichen Kommentar, ich freu mich riesig drüber. Und was ich nur raten kann: LOS! :)
LG Marianna
Ulla on 13. August 2015
Äusserst informativ, unglaublich spannend, differenziert geschildert, Marianna! Illustriert durch wunderbare Fotos, teilweise wie Gemälde!!! Echt bereichernd!!!
Darüber, dass die Tiger-Begegnung sich nicht erfüllt hat bin ich noch im Nachhinein sehr erleichtert – du mutige Frau…!
Und – ja – wir wohnen in Palästen!!!!
Marianna on 31. August 2015
Danke dir liebe Ulla!
Marco on 18. Januar 2016
Liebe Marianna,
Deine Reisebericht ist ein Kunstwerk!
Bisher dachte ich Bangladesch, naja später mal. Aber jetzt rückt dieses Land und die Geheimnisse ganz weit nach vorne auf meine Reise-Wunsch-Liste!
Wirklich gut geschrieben und perfekt inszeniert! Ich freue mich auf mehr!
Liebe Grüße Marco
Marianna on 20. Januar 2016
Hallo Marco!
Ganz lieben Dank für dein tolles Feedback. Freut mich sehr zu lesen und viel Spaß auf der deiner baldigen Bangladeschreise!
LG
Marianna
Max von Rötel on 24. April 2017
Der Bericht, wie auch die Art der Darstellung mit den eingefügten Videos, hat mir besonders gefallen. Man hat nicht den Eindruck, dass ihr wie ein touristischer Obstkorb weitergereicht wurdet.
Samir on 6. April 2020
The complete article provides us unbiased view in the lives, of sundarban people – They are really dependent on the sundarban forest for their livelihood, and indeed when a tiger attacks and robs them of only one cow they have to support their entire family and livelihood,, there lives take big toll..
Džangir on 11. September 2020
I hope I’ll have chance to visit this great country once
PARV UPADHYAYA on 16. Februar 2021
Hello, I am PARV UPADHYAYA. I am an emerging travel blogger. Recently I created my own website and I want to promote it. So I am Sharing my website. Please share with Everyone. Thank You!