Die Mexikaner sind unglaublich freundlich und einfallsreich. Die schönen Künste sprangen mich, wo immer ich mich aufhielt, geradezu an: im öffentlichen Raum an Mauern und Häuserwänden. In kaum einem anderen Land gibt es so viele Museen, archäologische Fundstücke und Kulturstätten. Die Menschen machen Musik und Kunst, wo und wann immer ihnen danach ist. Und sie scheuen sich nicht, alte Traditionen mit Moderne zu verbinden. Da gibt es viel zu fotografieren.
Knips knips, auf Bilderjagd
Als ich die Mayastätte in Tulum besuche, bin ich hin und weg von der einzigartigen Lage direkt am Strand. Allerdings sieht man kaum etwas davon.
So viele Menschen!
Natürlich möchte Jeder, der gerade in der Nähe ist, diese Stätte besichtigen. Und natürlich möchte jeder gerne Fotos machen. Deshalb ist es voll. Ich dachte, ich gehe besser früh morgens hin….aber das dachten andere wohl auch. Menschenströme hangeln sich schwitzend den Weg entlang, zücken Kameras und recken Smartphones in die Höhe. Reiseführer mit angestrengten Gesichtern lotsen ihre Gruppen durch das Gelände, ängstlich bedacht, niemanden unterwegs zu verlieren. Um das „beste“ Foto zu ergattern, steigen einige über Absperrungen, posieren vor den Ruinen und vor dem Meer, am besten beides gleichzeitig. Dabei ist mancher schon über die Klippen gepurzelt, was nicht immer gut ausgegangen ist.
2015 starben 39 Personen durch ein Selfie, 2016 waren es sogar 73. Ein deutscher Tourist starb, als er ein Selfie jenseits der Absperrungen in Machu Picchu machte. Die häufigste Todesursache ist Sturz in die Tiefe, gefolgt von Angriffen durch wilde Tiere und Begegnungen mit Stromkabeln.
Wie war das eigentlich im analogen Zeitalter?
Wenn ich Bilder von meiner ersten Rucksackreise 1980 anschaue, staune ich immer, wie wenig Menschen dort zu sehen sind. Machu Picchu ohne Touristen? Heute undenkbar. Tiwanaku menschenleer? Wohl kaum. Aber in den 80-ern war das so. Man konnte sich einfach hinsetzen, genießen und eben jenen magischen Orten begegnen.
Wir hatten damals zehn Filmrollen dabei. Jede Rolle 24 Bilder. Und wir wollten zwölf Monate durch ganz Südamerika, von Französisch Guyana über Brasilien, Paraguay, Bolivien, Chile, Peru, Ecuador hoch nach Panama, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Guatemala. Da gab es viele Motive für wenig Film. Manchmal warteten wir stundenlang, um ein Motiv ins richtige Licht zu setzen. Wenn es regnete, stellten wir uns geduldig irgendwo unter, bis endlich die Wolkendecke aufbrach. Wenn die Sonne dann den Tempel oder die Festungsmauer der Inka beleuchtete, machten wir unser Bild. Schließlich hatten wir zuvor viele Stunden im stickigen Bus zurückgelegt. Stets galt: Bloß nicht zu schnell den Auslöser betätigen! Erst alles checken, dann tief einatmen, Luft anhalten und auslösen.
Bloß keine Aufnahme verschwenden!
San Juan de Chamula: Fotografieren verboten
Manchmal braucht es ein Verbot, damit wir wieder erleben können, wie es ist, einfach nur dabei zu sein und alles auf sich wirken zu lassen, anstatt darüber nachzudenken, wie die Szene am besten auf dem Display aussieht. So ein Erlebnis hatte ich in San Juan de Chamula und fühlte mich zurück versetzt in die Reisephase der 80er-Jahre.
Wer in der Kirche von San Juan de Chamula mit Fotoapparat, Handy oder Videokamera erwischt wird, muss hohe Geldbußen zahlen, seine Gerät abgeben und kann sogar im Dorf festgehalten werden. Das zumindest berichtet der Guide. Die Schilder an der Außenfassade sind deutlich. Verboten, verboten, verboten. Deshalb gibt es nur Fotos von außen.
Was mag es da so Geheimes geben, denke ich mir nach der Einführung. Ok, es ist eine katholische Kirche in einem indigenen Dorf. Hier sprechen 98% der Bevölkerung Tzotil.
Aber Kirche ist doch Kirche, oder nicht?
Das Huhn, das in der Kirche starb
Als ich das Gotteshaus betrete, werde ich eines Besseren belehrt. Das hier ist etwas anderes. Es verschlägt mir fast den Atem. Die ganze Raum ist ein Lichtermeer. Hunderte von Kerzen flackern auf dem Boden, dazwischen sitzen, hocken und knien Familien. Sie unterhalten sich oder stimmen einen Singsang an. Auf dem Boden sind getrocknete Pinienzweige ausgebreitet. Sie sollen, erfahre ich später, die negative Energie der Menschen aufnehmen und werden später entsorgt. Bei den einzelnen Gruppen stellt jeweils ein Schamane oder ilol auf dem Boden lange Reihen von neuen Opferkerzen auf. Weiße Kerzen sollen für Frieden und innere Ruhe sorgen, rote für physische Gesundheit, grüne für das Gelingen der Ernte und gelbe für die finanzielle Situation der Familie. Am rechten und linken Rand des Kirchenschiffes stehen die Heiligen der Katholischen Kirche Spalier, allen voran Namensgeber Sankt Johannes.
Ich stehe da und staune. Es ist eine bewegende Atmosphäre. Die Frömmigkeit knistert geradezu in der Luft. Es duftet nach Kopal. Ich fühle mich einerseits wie in eine andere Welt versetzt, gleichzeitig aber außergewöhnlich präsent.
Plötzlich kommt eine Prozession herein. Vorneweg zwei Autoritäten, die Mayordomos, in ihren weißen Gewändern, ihr Status zu erkennen am Turban. Sie dürfen auch außerhalb der Kirche nicht fotografiert werden, sagt der Guide. Dann folgen Menschen, die Kisten mit Kerzen, Alkohol, Coca Cola und Fanta tragen, Frauen mit Hühnern und Kindern und schließlich eine kleine Kapelle mit Akkordeon.
Die Musik ist sehr sanft und monoton, ein wenig melancholisch, es wiederholt sich die immer gleiche Abfolge einer Melodie. Es wirkt sehr meditativ auf mich. Die Prozession ist bis kurz vor den Altar vorgegangen und hat sich dort im Halbkreis niedergelassen. Nun werden wieder Kerzen aufgestellt, während die Musik immer weiter spielt. Dann wird ein Huhn von einer Frau gepackt und über den Kerzen hin und her geschwenkt.
Anschließend bricht sie ihm das Genick.
Was noch schlimmer ist: das Huhn liegt noch eine Weile mit gebrochenem Hals am Boden, mitten in der Kirche und zuckt und zappelt während die Zeremonie in Ruhe weiter geht. Der Anblick ist schwer auszuhalten, aber ich mag mir kein Urteil anmaßen. Was wir in unserer Kultur mit den Hühnern in Massenhaltung machen, ist mit Sicherheit keinen Deut besser. Ich schätze, fürs Kükenschreddern haben die Menschen hier auch wenig Verständnis. Dieses Huhn, das da nun in der Kirche liegt, hat wahrscheinlich wenigstens ein schönes Leben gehabt. Ich glaube nicht, dass sie es zuckend da liegen lassen, weil sie Spaß am Leid haben. Aus ähnlichen Ritualen südamerikanischer Kulturen weiß ich, dass manchmal die Dauer des Sterbens gedeutet wird. Oft werden bestimmte Fragestellungen und Bitten mit dem Opfer verbunden. Die Art und Himmelsrichtung des Rauches bei Verbrennungen kann ebenso bedeutsam sein wie der Sterbevorgang eines Opfertiers. Inzwischen liegt das Huhn reglos da. Es wird Alkohol ausgeschenkt und Kopal verräuchert.
Nach einer Weile verlasse ich die Kirche und versuche zu verstehen, was da abläuft.
Da haben sich zwei Religionen miteinander vermählt. Die der spanischen Eroberer mit dem Glauben der Eroberten. Oder besser gesagt: sie sind eine Zwangsehe eingegangen. Denn die Symbiose aus beiden Religionen war die Voraussetzung dafür, dass die Menschen hier ihre eigene weiter ausüben können. Die katholischen Heiligen haben quasi eine Stellvertreterfunktion. Ganz schön schlau, finde ich.
Mexikaner finden für alles eine Lösung. Das macht sie so liebenswert. Auf dem Rückweg in mein Hostel fliegt die Landschaft an mir vorbei. Ich bin seit einer Woche in Chiapas. Und es gibt noch so viel zu erleben. Aber ich muss zurück nach Cancun, mein Rückflug ist in drei Tagen. Sieben Wochen sind wie im Flug vergangen. Ich bin wie berauscht von den Farben Mexikos und vollgepumpt mit Ideen und Energie. Eines ist jetzt schon klar: Mein Comeback mit Backpack ist noch lange nicht zu Ende.
Mexiko, ich komme wieder.
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