Auch Machatschkala in der Kaukasusprovinz Dagestan ist ein Ort, der auf keiner touristischen Landkarte verzeichnet ist. Mein Gastgeber heißt Renat, ist IT-Spezialist, 37 und hat seit drei Monaten den Führerschein. Er freut sich auf viel Fahrpraxis, als wir am nächsten Tag mit seinem schwarzen Lada Granta zu einer Spritztour aufbrechen.
Machatschkala ist ein Moloch, ein Chaos aus Schawarma-Imbissen und Kwas-Straßenständen, Hochzeitskleidshops und Moscheen, einem irren Neben- und Durcheinander an bunten Werbepostern. Nur ein paar Meter trennen die Tristesse grauer Sowjetwohnblocks von einem fröhlichen Strandspektakel am Kaspischen Meer mit Volleyballspielern, Picknickern, Badenden und muskelbepackten Ringkämpfern beim Training.
Die Stadt hat offiziell 600.000 Einwohner, aber nach inoffiziellen Schätzungen könnten es auch doppelt so viele sein, man hat da ein bisschen den Überblick verloren.
Junge Männer am Strand: Am Kaspischen Meer ist jeden Tag Schaulaufen angesagt. © gullivertheis.de
Zugleich dient der Ort als Freiluft-Fitnessstudio… © gullivertheis.de
…und als Ringkampf-Arena. © gullivertheis.de
Die Stadt am Kaspischen Meer hat offiziell 600.000 Einwohner. Touristisch spielt sie derzeit keine Rolle – die Außenämter der meisten westlichen Länder raten von einem Besuch ab, weil die Provinz Dagestan als Terrorismus-Keimzelle gilt. © gullivertheis.de
Zumindest am Strand können die Einwohner ihre Alltagssorgen vergessen. © gullivertheis.de
Gastgeber Renat hat drei Jahre in der Nähe von Düsseldorf gelebt. Manchmal spricht er eine sehr charmante Mischung aus Englisch und Deutsch. © gullivertheis.de
Renats Gästezimmer ist von der Innenausstattung her ein bisschen gewöhnungsbedürftig. © gullivertheis.de
Er selbst dagegen erweist sich als wunderbarer Gastgeber, der mir viel über das Leben in Dagestan erzählt. © gullivertheis.de
Wir halten uns Richtung Süden, erst wird die Landschaft immer grüner, dann immer bergiger. Am Straßenrand steht ein Polizeiposten. „Scheiße, bestimmt stoppen die uns“, sagt Renat. „Dann ist der Tag gelaufen. Die wollen alle Papiere, fragen nach unseren Kontakten und was wir hier wollen. Sie werden uns nichts glauben, egal, was wir antworten. Pure Schikane.“ Sie stoppen uns nicht.
Renat hat grauschwarze Haare, braune Augen und einen dunklen Teint. Drei Jahre lang hat er in Langenfeld gelebt, in einem Asylbewerberheim in einer alten Militärbaracke. Damals kamen viele Flüchtlinge aus Dagestan nach Deutschland, weil die Region vom Tschetschenienkrieg betroffen war. „Ich habe mit den Zeugen Jehovas Deutsch gelernt, die waren so geduldig im Gespräch. Und mit WDR 4, ‚Ich hab‘ mein Herz in Heidelberg verloren‘ und solchen Liedern, da sind die Sätze nicht so kompliziert.“ Ein pragmatischer Mensch.
Er hat sehr positive Erinnerungen an Deutschland. An die Joggingrunde um den See, die Au-Pair-Mädchen aus dem Sprachkurs, die Korrektheit der Beamten, die Freiheit fernab der Regeln der Familie. „Eltern in Dagestan versuchen, dich bis zum Tod zu kontrollieren. Sie haben Angst, ihre Kinder einfach machen zu lassen, selbst wenn sie schon fünfzig oder sechzig sind.“
Durch Schlammpfützen nach Balkhar
Sein Asylantrag wurde abgelehnt, den Traum vom Neuanfang in Europa hat er aufgegeben. Nun hofft er, dass die Spannungen mit Moskau sich nicht verstärken. „Derzeit ist die Situation in der Ukraine kritischer, das ist besser für uns, wir sind nicht der Haupt-Feind.“ Vor fünf oder sechs Jahren sei es viel heftiger gewesen, jedes Verbrechen, an dem jemand aus dem Kaukasus beteiligt war, sei zum Politikum geworden.
Wir fahren nun auf einem Schotterweg zwischen steilen Felswänden, die sich wie überdimensionale Fischflossen aus dem Grasland erheben. Den Straßenrand schmücken unfassbar vielfältige Blumenwiesen, die Luft riecht nach Zitrusfrüchten und der Matsch nach Kuhscheiße. Ein riesiger Adler zieht seine Kreise über uns. Renat fordert dem Auto alles ab, fährt durch tiefe Schlammpfützen und im Slalom um große Steinbrocken.
Ständig rechnen wir damit, dass es hinter der nächsten Serpentinenkurve ohne Allradantrieb nicht mehr weiter geht. Doch irgendwie schaffen wir es nach Balkhar. Das Bergdorf kann mit einer spektakulären Lage am Hang punkten und mit dekorativen alten Männern mit Hut, die auf dem Hauptplatz auf einer Bank sitzen. Winzige gebückte Babuschkas kommen mit Holzkörben voller Teeblätter von den Feldern zurück. An den Steinwänden der Häuser kleben müffelnde Kuhfladen zum Trocknen, um später als Brennmaterial zu dienen. Esel, Hühner und Katzen streunen herum, und der Muezzin ruft zum Gebet.
Ich finde das alles ganz zauberhaft, Renat ist weniger angetan. „Ich verstehe nicht, warum Menschen in der heutigen Zeit noch an so abgelegenen Orten leben“, sagt er. Auch das gehört zu den Erkenntnissen einer Couchsurfing-Reise: dass Einheimische oft das, was Reisende als romantisch und authentisch empfinden, erheblich nüchterner sehen.
Männer im Stadtzentrum: In Balkhar, in den Bergen südlich von Makhatschkala, scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. © gullivertheis.de
Der Ort ist wie die gesamte Region muslimisch geprägt. © gullivertheis.de
Kuhfladen trocknen an der Wand, um später als Brennmaterial zu dienen. © gullivertheis.de
Gastgeber Renat versteht nicht, dass Menschen in der heutigen Zeit noch unter solchen Umständen leben. © gullivertheis.de
Bei der Umgebung sind wir uns allerdings einig: Absolut spektakuläre Landschaften umgeben das Dorf. © gullivertheis.de
Auf der Hinreise wurden die Ortschaften immer altmodischer. Hier sind die Shopping-Möglichkeiten noch vergleichsweise modern. © gullivertheis.de
Die Kaukasus-Region könnte erheblich mehr Touristen anziehen, wenn Reisen hierher nicht als gefährlich gelten würden. © gullivertheis.de
Stalin im Ortszentrum: Eine Autostunde entfernt von Balkhar liegt Shukti, ein Ort, in dem ein Millionär 200 Luxushäuser errichten wollte. Doch kurz vor der Vollendung starb er – die Behausungen wurden nie fertig gestellt. © gullivertheis.de
Eine Woche später bringt mich ein Nachtzug nach Wolgograd, meine Gastgeber heißen Sergej, Krisia und Grischa und sind 55, 37 und drei Jahre alt. In seinem Couchsurfing-Profil zitiert Sergej einen Ausspruch seiner Mutter, der mir gut gefällt: „Maximal ein Prozent der Menschen ist absolut toll und perfekt, und ein Prozent ist komplett schlecht. Die restlichen 98 Prozent sind eine komplizierte Mischung aus Gut und Schlecht. In deinem Leben begegnest du meistens Menschen, die weder Engel noch Teufel sind, sondern ein Cocktail aus beidem. Wenn du unter Engeln leben willst, musst du die Leute um dich herum provozieren, nur ihre guten Seiten zu zeigen.“
Ich habe auf meinen Reisen eine ähnliche Erfahrung gemacht. Gerade in Ländern, die viel negative Presse abbekommen, erlebe ich oft mit den ganz normalen Menschen die herrlichsten Dinge, die nicht zu dem schlechten Image zu passen scheinen.
Ich finde die Statistik durchaus glaubwürdig, auch am unteren Ende: Vermutlich sind ein Prozent aller Russen absolute Volldeppen. Und ein Prozent der Österreicher, ein Prozent der Muslime, ein Prozent der Amerikaner, ein Prozent der Deutschen, ein Prozent der Christen, ein Prozent der Nigerianer, ein Prozent der Flüchtlinge, ein Prozent der Kölner, ein Prozent der Frauen, ein Prozent der Linkshänder.
Leider generiert dieses eine Prozent besonders viel Aufmerksamkeit.
Und auch wenn ihr Anteil gering ist, kommt man rechnerisch bei 7,4 Milliarden Erdenbürgern auf 74 Millionen Idioten weltweit. Das reicht, um einiges kaputt zu machen.
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Leserpost
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Johanna Stöckl on 2. April 2017
Ich habe das Buch in einem Rutsch ausgelesen :-)
Großartig, wieder einmal!
Johanna
Aylin on 6. April 2017
Schöne Worte, kluge Gedanken, humorvoll geschrieben- gefällt mir sehr gut!
LG Aylin