Wir steigen in Seddin aus und zerren die Räder auf den schneebedeckten Bahnsteig. Ich ziehe ein drittes Paar Handschuhe über und wir starten auf dem Fahrradweg Richtung Osten. Der Große Seddiner See liegt am Rande einer vielbefahrenen Straße, eingebettet in einen Eichenwald. Das nördliche Ufer ist von Campingplätzen gesäumt, hin und wieder führt ein Badestrand ins seichte Wasser.
Der See ist weiß überzogen.
Klebriger Schnee liegt auf dem Eis. Es ist völlig still.
Ich gehe zum Eis und stelle meine gummibesohlten Stiefel vorsichtig darauf. Es ist dick, aber noch nicht dick genug, um darauf zu laufen. Ich halte inne und wäge die beste Strecke zum tiefen Wasser ab, meinen Hammer umklammert.
Das ist die Kälte, auf die ich gewartet habe.

Ich ziehe mich aus, lege meine Kleidung auf dem Ast eines Baumes zusammen und gehe auf das Eis zu, nur mit meinem Badeanzug und einer Wollmütze bekleidet. Ich mache ein paar kleine Schritte und höre auf das knackende Singen des Eises, dann beginne ich, ein Loch zu hämmern. Für das erste brauche ich nur wenige Momente – ein Spalt, der gerade breit genug ist, dass ich mich hineinstellen kann. Von hier beuge ich mich nach vorne und hämmere ein weiteres, während meine Füße sich in der Kälte des Sees winden. Im nächsten Loch steht das Wasser bis zur Mitte meiner Waden. Im nächsten bis zu meinen Knien. Scherben von zerbrochenem Eis fliegen durch die Kälte. Ich wische sie mit dem Hammer weg. Wenn ich nicht aufpasse, werde ich von Schnitten übersät sein.
Dann ist das Wasser tief genug, um einen Pool aus dem Eis zu hämmern, in dem ich untertauchen kann. Der Rest des Sees liegt völlig still da, stabil und dick. Ich stehe in der Hocke, ein Fuß im Wasser, der andere auf dem Eis, und schlage mit der scharfen Kante des Hammers. Eissplitter fliegen nach oben, bis meine Brille nass ist. Ich spüre, dass sich auf meiner Mütze Wassertropfen sammeln. Ich hämmere minutenlang ohne Pause, bis Anne mich unterbricht.
„Du musst die Beine wechseln. Dein rechtes Bein ist schon zu lange unter Wasser.“ Ich schaue nach unten und versuche, meine Haltung zu ändern, aber das Loch, in dem ich stehe, ist zu eng. Ich habe ein Hüpfspiel ins Eis gehauen. Ich kann immer nur auf einem Fuß stehen. Kopfschüttelnd antworte ich: “Ich spüre es sowieso nicht. Ist okay”, obwohl ich weiß, dass ich mit leichten Erfrierungen bezahlen werden.
Ich arbeite weiter, bis das Loch groß genug ist, um mich hineinzusetzen. Als es fertig ist, tauche ich unter, langsam und gewissenhaft, und weiche dabei Eisscherben aus. Als mir das Wasser bis zum Hals reicht, ruhe ich eine Weile und strecke meine Beine nach vorne in den gefrorenen See. Ich will einfach nur hierbleiben, eingeschlossen unter dem Eis, aber ich bin schon seit über fünfzehn Minuten im Wasser.
Ich hätte schon lange rausgehen sollen.
Ich schleppe mich zurück zum Ufer, unfähig meine Glieder zu spüren. Zurück auf dem Sand sehe ich, dass ich an beiden Beinen Blutergüsse habe, die schon blauschwarz in der Kälte leuchten. Das Blut aus vielen Schnitten ist gefroren.
Anne ist dran und ich packe mich in meine Klamotten. Um meine Zehen nicht nach hinten zu biegen, führe ich meine Füße mit den Händen durch die Leggings. Sie fühlen sich dumpf an, wie formlose Klumpen am Ende meiner Beine. Als ich meine Schuhe wieder anhabe, fange ich an, auf der Stelle zu hüpfen. Ich höre, wie Anne in der Kälte flucht. Meine Stimme steigt nach oben bis in meine Kehle. Ich gackere, lache in die Stille des Waldes.

Endorphine haben ihre Arbeit getan. Ich bin aufgedreht und grinse wie ein Idiot.
Es fühlt sich berauschend an, mein Atem geht immer noch schneller, meine Brust in höchster Wonne. Ich hebe meinen Hammer auf, der noch nass ist vom See, und halte ihn fest in der Hand. Ich will nicht, dass das Gefühl aufhört.
* * *
Leserpost
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Simone on 9. April 2017
Ich bin selbst angespannt und hippelig – auf meinem Stuhl – als sei ich mit Euch beiden gerade dabei gewesen! Ich spürte die Veränderungen der Jahreszeiten, die Kälte. Ich liebe den Herbst und auch den Winter in Verbindung mit all unseren Annehmlichkeiten. Auch die Stille und Orte mit wenigen oder gar keinen Menschen. Aber das ist wirklich verrückt! Obwohl – es hat sicher seinen Reiz, zu beobachten, sich selbst zu beobachten, was gedanklich und körperlich geschieht… … Habt Ihr Erfrierungen erlitten? Dauerhafte Schäden?
Was Euch antreibt, dieses Endorphine-Gefühl – ist es eine Sucht? Ich will Euch so viele Fragen stellen…
Daniela Jungmeyer on 9. April 2017
Wahnsinn – da wird einem ja schon beim Zuschauen kalt – Gänsehaut am ganzen Körper!
Schwer vorstellbar, das auch nachzumachen – alleine die Belastung für Körper, Herz und Kreislauf!
Obwohl es natürlich ein Traum ist – rundherum Schnee, Eis und rein ins kühle Nass! Aber da nehme ich doch lieber mit dem Whirlpool vorlieb – da kann man auch im Winter rein und es ist wesentlich wärmer!
Anika on 14. April 2017
Wuaahhh, mich frierts. Die Videos sind so friedvoll und ihre Worte beeindruckend … das Buch hätte ich sehr gerne!
Grüße,
Anika
Andreas on 14. April 2017
Sehr schön lebendig geschrieben! Ich spüre beim Lesen förmlich mit, wie sich die Atmung verhundertfacht bevor der Kopf dem Körper folgt.. Toll! Ich wünsche der Autorin noch ganz viele inspirierende, positive Erfahrungen dieser Art! ..an denen wir hoffentlich auch weiter ein wenig teilnehmen dürfen.. :o)
LG, andy
Benjamin on 14. April 2017
Tolles spannendes Projekt. Mitten in einer Großstadt und Metropole und trotzdem in der Natur. Ganzjährig. Bin gespannt auf das Buch und die Erzählungen. Glückwunsch Jessica zum Buchprojekt!
Markus on 16. April 2017
Spannend… Das Buch interessiert mich sehr!
Lia on 16. April 2017
Sehr cool (im wahrsten Sinne), sehr schick hier… Ich würde sher gerne auch das Buch gewinnen! Schwimmen gehe ich aber weiterhin lieber im Sommer, am Liebestn zum Stechlin See
Sandra P. on 16. April 2017
Mit diesem Buch wäre das April-Wetter leichter zu ertragen…
Hakan on 17. April 2017
Ich lese gerne die Bücher..
Das Buch würde ich auch gerne lesen weil:
Bücher sind Schiffe, welche die weiten Meere der Zeit durcheilen.“
Francis Bacon