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The Travel Episodes

Eins / Saigon

Lost in Vietnam

Es ist schwierig, dem Backpacker-Pauschaltourismus zu entkommen. Philipp Laage macht eine Reise nach Vietnam – und zu den eigenen Unzulänglichkeiten.

Ankunft am späten Nachmittag in Saigon. Dampf aus Garküchen, Stimmengewirr und Motorengeräusche, das Taxi müht sich durch den Verkehr. Die Häuser in der Bui Vien Street sind nicht sehr ansehnlich. Schmal geschnitten stehen sie dicht an dicht. Beton auf Ziegeln, kaum verputzt, ein bisschen Grün auf den Balkons. Im Erdgeschoss sind Läden untergebracht, Restaurants und Bars, die zahme Fusion-Küche anzubieten haben – „Vietnamese & European Food & BBQ“, „North & South Indian Food Halal & Vegetarian“ –, hauptsächlich für die Backpacker-Touristen aus dem Westen oder Australien, die mit ihren Tank Tops und Flip-Flops daherschlendern und die Schultern wackeln lassen, als seien sie am Meer und nicht in der Großstadt. Asien: ein großer Strand.
 
 
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Wir, mein Reisebegleiter und ich, sind in einem sogenannten einfachen Hostel um die Ecke untergekommen, an der Pham Ngu Lao Street, so wie die meisten jungen Touristen, die in dieser Stadt aufschlagen. Niemand nennt sie Ho-Chi-Minh-City, sondern: Saigon. Der Name liegt auf der Zunge wie ein angenehmer Geschmack des alten Asiens, wie die sanfte Erinnerung an eine Zeit, die man selbst nie erlebt hat. Die lächerliche Phantasie eines empfindsamen Geistes. Ich will trotzdem nur noch dasitzen, dem zerfahrenen Treiben des Verkehrs zuschauen und eine Pho essen, danach Bier trinken und nichts tun. Aber so einfach ist es natürlich nicht.

Das abendliche Gewitter der Regenzeit geht über den Gassen nieder, überall tropft es. Ein undurchsichtiges Geflecht aus Stromkabeln überzieht die Straßen und Bürgersteige.

Motorroller gleiten wie Fischschwärme über den nassen Asphalt, sie folgen keinen Verkehrsregeln, aber einer inneren Ordnung.

Der Blick auf die vom Regen verpixelten Neonfassaden mit der billigen Werbung macht mich mit einem Mal unglaublich melancholisch. Erster Abend in Vietnam, es hört nicht auf zu regnen.
 
 
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Wie immer auf Reisen gilt es, erst einmal Orientierung zu finden, um sich die Stadt zugänglich zu machen und nicht schon nach dem Frühstück an ihrer Größe und Hektik zu kapitulieren. Unser Plan: Möglichst viel zu Fuß gehen, was immer vernünftig ist, nur für wirklich lange Strecken ein Taxi nehmen (oder wenn das tropische Klima die Schläfen zum Wummern bringt, was früher oder später passiert, vor allem, wenn man zu wenig trinkt).

Wir laufen vom Busbahnhof zum Ben Thanh Market, dem größten Markt der Stadt. Davor huscht eine indigoblaue Eidechse durch das Gras. Schüler kommen über die Wiese auf uns zu, die Mädchen wollen sofort Fotos machen.

„You are handsome, but snow white“, sagt eine zu meinem Freund.

Der Lehrer lädt uns ein, die Schule zu besuchen, über Deutschland zu sprechen, kein Problem, wobei – doch: Wir haben keine Zeit, obwohl das bei genauerer Überlegung Blödsinn ist, aber man sagt es so daher.

Weiter durch den Verkehr entlang der Le Loi Street, dann Straßen kreuzend. Man muss einfach losgehen, weil niemand für einen anhält, das lernt man schnell, und so bewegt man sich durch die Menschen, Autos und ungezählten Mopeds wie ein Taucher durch den Fischschwarm: Auf wundersame Weise kommt es nie zu einer Berührung.

Zeit, einige Eindrücke zu sammeln. Die Architektur der Wohnhäuser ist schmucklos und funktionell, ein großes Durcheinander: dreigeschossiger Säulenkitsch in Pastellgrün neben depressiv gemauerter Baracke mit Metalltor neben plump-modernistischem Apartmenthaus mit betonierter Dachveranda, auf der eine Hängematte aufgespannt ist.
 
 
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Schnell ist das T-Shirt nass, stehen Schweißtropfen auf der Stirn, wird Wasser gesucht (man trinkt immer zu wenig). Vietnam hat ungefähr die Größe Deutschlands, liegt aber durch die große Nord-Süd-Ausdehnung in mehreren Klimazonen. Hier in Saigon, im Süden des Landes, ist es immer heiß, feucht, subtropisch schwül. Im Norden, nahe der chinesischen Grenze, fällt im Winter Schnee. Kaum vorzustellen.

Nur gehen und schauen, weil man nicht weiß, was interessant sein könnte, das ist der Reiz, den man, glaube ich, langsam verlernt als Kulturtechnik. Aber man gilt schnell als Fortschrittspessimist und langweilt alle unendlich, wenn man das sagt.

„Trung Nguyen Coffee“: die vietnamesische Interpretation einer Starbucks-Filiale. Der Mother Land Coffee ist mit Ingwer, Honig und Milch verfeinert. Auf dem repräsentativen Dong Khoi Boulevard, der von der kolonialistischen Notre-Dame-Kathedrale zum Fluss hinunterführt, stehen die alten und neuen Luxushotels, hier gibt es auch die Luxusboutiquen: Hermès, Versace et cetera. In jedem Imbiss bekommt man Oolong-Tee mit Eiswürfeln und kann es dann wieder mit der Schwüle des Tages aufnehmen.

Besuch beim Wiedervereinigungspalast: Ein kommunistischer Panzer steht noch auf dem Vorplatz, die Staatsflagge weht über dem Rasen. Am 30. April 1975 drangen nordvietnamesische Truppen in den Palast ein, die Amerikaner mussten das Land endgültig verlassen. Die von US-Präsident Harry Truman herbeidoktrinierte Domino-Theorie, deren praktische Zwänge wiederum Henry Kissinger bedingungslos in die Tat umsetzte und die die amerikanische Gesellschaftspsychose Vietnam unnötig in die Länge zog, brach damals endgültig in sich zusammen. Vietnam, jahrzehntelang von fremden Mächten bestimmt, wurde sozialistisch.

 

Natürlich gibt es auch heute noch Spuren dieses Krieges zu sehen, von dem Richard Nixon meinte, sein eigentliches Ziel sei Frieden. Zum Beispiel im Kriegsmuseum an der Ecke Le Quy Don Street / Vo Van Tan Street. Dort hängen Bilder von Kindern, die durch das Giftgas Agent Orange schwer missgebildet wurden. Und bei den Tunneln von Cu Chin werden in folkloristischer Propagandamanier die Guerilla-Taktiken der Vietcong dargestellt (ein Tagesausflug hat uns 190.000 Dong gekostet, sehenswert).

 

Heute wirkt Saigon wie eine seltsame Mischung aus Vietnam, Frankreich und den USA: mit seinen Speisen aus den Garküchen, unglaublich günstig und gut, den alten Renaults und dem von Gustav Eiffel entworfenen Hauptpostamt, mit den sauber ausgeleuchteten, nicht so günstigen Cafés für den urbanen Mittelstand. Die Amerikaner haben ihr Geld in diese Stadt gesteckt, um Krieg führen zu können. Natürlich wirft sich Saigon, im Zusammenspiel der Millionen Einzelschicksale, das jedes für sich einer eigenen Logik folgt, rasend schnell in die Zukunft.

In Saigon lebt noch die Gewissheit, die in den westlichen Gesellschaften zunehmend abhandenkommt: Die Zukunft bringt mehr Wohlstand für alle.

Man sieht die staunenden Augen der Kinder auf den Mopeds, die sich an den Rücken ihrer Eltern, Schwestern und Tanten festklammern und zügig durch die Gassen kurven, als bliebe nicht mehr viel Zeit zum Kindsein.

Überall Aufschwung, Tüchtigkeit, Optimismus, jeder ist freundlich und zielorientiert. „May I help you, Mister?“, „No problem, Mister.“ In den Hostels können sie im Prinzip alles für einen besorgen: Bustickets, Ausflüge, Fremdwährungen, Tickets für Inlandsflüge. Das ist sehr bequem, wenn man wenig Zeit hat wie wir. Saigon gibt die Richtung des Landes vor, und die Frage liegt auf der Hand, ob das eine gute oder schlechte Sache ist.

Am späten Nachmittag sind wir zurück in unserem Viertel, bevor es zu regnen anfängt, aber mein Gott: Wie wenig mich das stört, dass es regnet. Wie es mich eher beruhigt. Die 17-Jährige in der Bui Vien, die uns an diesem Abend wieder bedient, weil das Essen in ihrem Lokal so vorzüglich schmeckt, ist ausgesprochen nett, ohne unterwürfige Heuchelei an den Tag zu legen. Sie hat zwei Jobs, erzählt sie, arbeitet morgens in einem Café und von nachmittags bis in die Nacht hinein in diesem Restaurant. Sie sieht nie müde aus, ist immer gut aufgelegt, findet es lustig, dass wir so viel essen.

Saigon hat zweifellos eine Magie, wenn es abends dunkel wird und die Lichter angehen. Die Leuchtreklamen der Weltkonzerne (Canon, Nikon, Sanyo) überstrahlen dann die Stadt und ihre Bewohner, im doppelten Sinn, als Verheißung und Mahnung zugleich. Sie strahlen über den Greisen, die mit einem Strohbesen die Gehwege vor ihrem Geschäft fegen, über den Taxifahrern mit ihren schlecht sitzenden Hemden und gezinkten Taxametern, die lustige unregelmäßige Sprünge machen, und über den Amüsierdamen vor ihren Bars im Viertel Pham Ngu Lao, die jedem Vorbeilaufenden ein „Where are you going?“ hinterherrufen, ohne zu bemerken, was das für eine existenzielle Frage ist:

Where are you going?

Gute Frage. Was gibt es hier zu entdecken, nicht im Sinne eines touristischen Programms, sondern für uns persönlich?

 

* * *

Zwei / Nha Trang

Verstopft von Gedanken

Die Küstenstadt Nha Trang galt einmal als das „Nizza des Ostens“, lesen wir. Klingt nicht schlecht. Wir wollen auf der Corniche schlendern und den Seewind hören. Auf nach Osten.

Der Nachtbus braucht sieben Stunden, die Straßen sind nicht gut. Hinter der Fensterscheibe geht die Sonne auf, jetzt ist an Schlaf nicht mehr zu denken, morgens ist es viel zu hell. Die Preisvorstellungen der Taxi- und Motortaxifahrer gehen wild durcheinander. Wir wissen, wo die Straße mit den Hostels ist, und lassen uns von irgendwem dorthin fahren.

Nha Trang liegt an der Küste des südchinesischen Meers und soll den Charme eines überschaubaren Seebads haben. Wir hielten das für eine gute Idee, nach drei Tagen Saigon mit seinen rund sieben Millionen Einwohnern erst einmal ans Meer zu fahren und zu entspannen.

Ein kilometerlanger Sandstrand säumt die Bucht, direkt am Wasser stehen große Hotels für die zumeist russischen Gäste, die Nha Trang als spottbilliges Winterquartier nutzen. Der Vergleich mit Nizza: vermessen, weil nicht auch sich heraus gewachsen, weil einfach hochgezogen.
 
 
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Unser Hostel ist sehr austauschbar. „New Day Hotel“, „Blue Sky Hotel“, „King Hotel“ – man vergisst die Namen der Unterkünfte sofort. Wir haben ein einfaches Zimmer, zwei Betten, ein Bad mit einem Duschkopf, alles noch akzeptabel sauber, für lächerliche 15 Dollar die Nacht. Es gibt natürlich Wireless LAN, wie in fast allen Touristenorten in Vietnam.

Nachdem wir noch einmal geschlafen haben, laufen wir in der Mittagshitze die Promenade entlang, verschieben das Schwimmen im Meer auf morgen, weil es jetzt zu heiß ist. Wir laufen einfach umher, so als brächte die Bewegung ganz natürlich Ereignisse mit sich, was ja tatsächlich oft so ist. Schwere Wolken über den Bergen im Hinterland kündigen Regen an.

Wir besuchen ein altes Heiligtum der Cham, einer alten Kultur, die weitgehend vertrieben wurde, und die Long-Son-Pagode mit ihrem 14 Meter hohen weißen Buddha, der unergründlich über den Hafen der Stadt hinwegschaut. In dem kleinen Shop eines alten Mannes hängen E-Gitarren an der Wand, sonst ist der Raum leer bis auf einen Kühlschrank und ein paar Plastikstühle. Wir trinken Coca Cola und schauen hinaus in das Gewitter, das jetzt über die Bucht zieht.

Bild Buddha

Die Schönheit in der Strandbar erklärt: „I am Russian but I don’t like Russian people.“ Wir bestellen Gin Tonic, als ob nichts anderes schmeckt. „See this guy“, sagt sie und zeigt zu einem Mann, „he talked to me like he was my friend.” Wir versuchen am nächsten Morgen mit russischen Urlaubern am Strand zu reden, natürlich über Fußball, aber sie können keinen Brocken Englisch, und so gehen uns die Wörter aus.

Vielleicht machen die Russen das richtig: einfach in die Sonne abhauen, nichts erwarten außer braun zu werden und diese Bräune dann als Ausweis für ein gutes Leben in die Heimat tragen.

Aber man muss sehr weise oder sehr stumpf sein, um sich einen ganzen Nachmittag auf eine Liege zu legen, ohne zu reden oder zu lesen oder sonst etwas zu tun.

Mit einem Mal habe ich keine Ahnung, was genau ich überhaupt in Nha Trang mache. Es gibt sicher tausend Orte auf der Welt, die gerade schöner wären. Der gleißend weiße Strand, die Hochhäuser, die Shops und Restaurants in den Straßen: eine verwechselbare Küstenstadt mit dem touristischen Reiz einer mit Bausünden verschandelten Ferienagglomeration an der Costa Brava.

Was tun? Kaffee trinken und reden. Der Tag geht langsam dahin. Noch einen Kaffee und wieder reden. Über „das Leben“ und die Befindlichkeiten, die es mit sich bringt, darüber, wie dieses oder jenes gelingt, wo man glaubt herzukommen, rein kopfmäßig, wo man gerade steht und hinmöchte. Alles legitim, alles nachvollziehbar. Aber dadurch lässt man das Außen nicht in seinen Kopf und bleibt auf sich selbst zurückgeworfen, man verstopft an Gedanken.

Interesse an der Welt statt Interesse an sich selbst, das ist der Weg, das sollte auch unser Programm für die weitere Reise sein, denke ich, während ich am Strand von Nha Trang sitze und die Zeit sich so träge vorwärts bewegt wie ein Verdurstender in der Wüste.

 

* * *

Drei / Hoi An

Trip Advisor 2014 Winner

Auf der Nord-Süd-Achse zwischen Saigon und Hanoi soll das Städtchen Hoi An in jedem Fall einen Halt wert sein. Wir sind gespannt, weshalb. Und fahren die Küste hinauf.

Hoi An liegt etwa 500 Kilometer weiter im Norden. Die Nachtbusfahrt ist dieses Mal nicht so rastlos wie die erste, aber vielleicht liegt das daran, dass wir im Laufe der Reise eine gewisse Grundmüdigkeit aufbauen, die irgendwann durchschlägt. Wir würden jetzt gerne einmal richtig etwas erleben, aber wir sind bloß furchtbar müde, also ab zu einer Unterkunft. Der Tag brennt schon heiß um 8.00 Uhr morgens.

Wir entscheiden uns für ein Boutique-Hotel, was – so steht es in vielen Reiseblogs – eher den Bedürfnissen eines sogenannten Flashpackers entspricht, der zwar mit Rucksack reist, aber gewisse Ansprüche an Komfort und Ambiente hat. Das Zimmer im „Phu Thinh 2“kostet uns pro Nacht 55 Dollar. Wir haben einen Balkon, der Blick geht auf die Berge in der Ferne, davor ein ordentlich zugeschnittener Pool.

Hoi An ist ein kleines Museum. Nur dass es nichts auszustellen gibt.

Kaum einer käme auf die Idee, dass die Stadt einmal ein bedeutendes Handelszentrum in Ostasien gewesen ist. Heute gibt es im touristischen Zentrum ein paar verstreute alte chinesische Kaufmannshäuser mit bunt verzierten Giebeln, Drachenfiguren, Ornamenten, Räucherstäbchen, Schreinen und Zierteichen (man kann ein für alle gültiges Besucherticket kaufen), doch ansonsten: vor allem Restaurants, Cafés, Bars, Souvenirläden und unzählige Schneidereien. Alle Touristen lassen sich hier spottbillig Maßanzüge und Kleider schneidern. Wir haben keine Lust, uns vermessen zu lassen.

Wir laufen einfach durch die Gassen. Wieder die Frage, was eigentlich zu tun wäre. Die Suche nach etwas, von dem wir nicht wissen, was es sein könnte, geht natürlich schief. Nachmittags Einkehr am Marktplatz, das Unbehagen, die Dinge nicht in die Hand nehmen zu können.

Wieder Prasselregen auf dem Asphalt. Die Frauen mit ihren Verkaufsständen auf Rädern haben sofort Plastikcapes zur Hand.

Wir tun in Hoi An nichts außer spazieren zu gehen und zu essen. Während diese Tätigkeiten an anderen Orten als Programm völlig genügen, weil eine bestimmte Stimmung existiert, eine Gesamtkomposition wirkt, bleibt Hoi An eine leere Hülle. Dabei spielt natürlich eine Rolle, dass man ungefähr 12 Stunden geflogen und insgesamt einen halben Tag Bus gefahren ist, um diesen Ort zu sehen.

Im Internet oder auch in persönlichen Gesprächen mit anderen Reisenden ist oft zu hören, dass Hoi An die Stadt sei, die „uns am besten gefallen hat“. Vielleicht liegt es daran, dass abends am Ufer des Thu Bon Lichter in Lampions entzündet werden, und dies als eine recht „bezaubernde“ Atmosphäre wahrgenommen wird. Wir wissen es nicht.
 
 
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Wir sitzen abends am Fluss und schauen dem Treiben zu. Auf der kleinen Insel an der anderen Uferseite stehen viele Bars, die stark gemischte Drinks ausschenken. Immer wieder: Muskelshirts und Hot-Pants, der Dresscode der selbstvergessenen Hedonisten. Sie sind hier nicht unwillkommen.

Hoi An, so scheint es, existiert nämlich allein zu dem Zweck, dass Touristen mit flüchtiger Aufmerksamkeit hindurchschlendern und Geld ausgeben. Es ist völlig austauschbar, was in den zahlreichen Restaurants angeboten wird: Spaghetti, Pizza, Baguettes, Croissants, Burger und – das natürlich auch – echte „Vietnamese cuisine“, die selbstverständlich nie so gut ist wie die tatsächliche echte vietnamesische Küche, die man zum Beispiel in einer Seitenstraße von Saigon findet.

Die Vietnamesen in Hoi An haben sich das Geschäft gut aufgeteilt. Man wird vermittelt, einer ruft kurz irgendwo an, sofort ist alles in die Wege geleitet: die Wäsche, der Ausflug in die Marmorberge, die Leihfahrräder, das Flugticket. Hoi An ist eine gut funktionierende Tourismusmaschine, eine saubere Kalkulation. Der Reisende nimmt voll und ganz die Rolle des Konsumenten ein, in Deutschland würde man sagen: des Verbrauchers (ein schreckliches Wort). Eine Stadt wie ein Freizeitpark für den Backpacker-Pauschaltourismus, der sich in ganz Südostasien ausbreitet.
 

In Hoi An zeigt sich auch die „TripAdvisorisierung“ der vermeintlichen Individualreiseziele. In jedem Schaufenster hängt ein „certificate“ als angebliches Qualitätsprädikat, basierend auf Bewertungen des modernen Globetrotters, der das nächste Hostel unterwegs auf seinem iPad bucht. Man wundert sich: Da ist wieder ein Guest House „Trip Advisor 2014 Winner“, was immer das heißen soll. Das inflationäre Ausstellen der womöglich selbstgedruckten Empfehlungen hat den Effekt, dass sie ihre Werbewirkung völlig verlieren. Der Herr an der Rezeption unseres Hotels bittet uns trotzdem, ihn persönlich auf TripAdvisor mit Namen zu erwähnen.

Was man bedauert: dass das Authentische irgendwie fehlt, ohne dass man genau sagen könnte, was damit gemeint ist. Dabei komme ich mir vor wie eine alberne Figur: auf der Suche nach einem ursprünglichen Reiseabenteuer in einer über alle Maßen kitschigen, konfektionierten Stadt. Mein Ärger über meine eigene Anspruchshaltung.

Aber wir sind keine Entdecker auf dieser Reise. Wir folgen dem wirklich ausgetretenen Touristenpfad nach Norden, und für etwas anderes sind wir entweder zu unwissend oder zu bequem. Und was wäre auch dagegen einzuwenden? Wir folgen der Masse, so findet man schnell Gesellschaft. Am Ende sind wir auch nur zwei vergnügungssüchtige Europäer mit etwas zu empfindsamen Gemütern, die mit jeweils 600 harten Dollar in der Tasche die Devisenarbitrage in einem aufstrebenden, aber immer noch verhältnismäßig spottbilligen Schwellenland ausnutzen, um sich in der Abendsonne in eine diffuse Wohlfühllaune zu trinken.

Dennoch: Wehmut. Eine ungreifbare Unzufriedenheit meinerseits.

Unser Fokus richtet sich auf das nächste Ziel der Reise: Hanoi, das Zentrum des Nordens. Wir hoffen, dort so etwas wie Ursprünglichkeit zu finden, eine Konservierung des alten Vietnams, das noch nicht – wie die Boomtown Saigon – auf dem Weg ist, ein neues Bangkok zu werden.

 

* * *

Vier / Hanoi

Feiern am Roten Fluss

Hanoi ist ein Sehnsuchtsziel jeder Vietnam-Reise. Vielleicht sogar der unbewusste Fluchtpunkt, den man immer im Hinterkopf hat. Wir kommen mit dem Flugzeug.

Endlich: Hanoi, die kulturell-beflissene Charakterstadt. Von den Franzosen geprägt. Ich habe mir ruhige Gassen vorgestellt, Giebel, Zierbäume und Kopfsteinpflaster. Alles ist anders: wieder Kastenbauten wie in Saigon (allerdings in ihrer Unordnung irgendwie schöner). Noch mehr Stromkabel, noch mehr Entropie, tausend Geschäfte, tausend Motorroller.

Wir beziehen ein Hostel in der Altstadt nördlich des Hoan-Kiem-Sees. Das unscheinbare Haus liegt wie alle Gebäude schmal zur Straßenfront hin. Vorne die Rezeption, ein paar Fenster, dahinter: Schlafzimmer, Küchen, Innenhöfe, Treppenaufgänge, Werkräume.

Die Altstadt ist so etwas wie die eigentliche Sehenswürdigkeit Hanois. Es gibt 36 Gassen, die nach ihrer Zugehörigkeit zu einer Handwerkszunft benannt sind, danach, welche Ware hier verkauft wurde und zum Teil immer noch verkauft wird. In der einen Gasse gibt es nur Körbe, in einer anderen nur Gewürze, und so weiter.

Doch auch Hanoi befindet sich in einer rasenden Transformation. Die Fassaden der Häuser altern von unten nach oben. In den Obergeschossen winzige Wohnungen mit noch kleineren Balustraden, Kleider hängen zum Trocknen auf den Kabeln, das Mauerwerk sieht unheimlich vermodert aus. Im Erdgeschoss: Cafés wie das „Hollywood“, moderne Restos, Reisebüros, Souvenirshops, Imbissbuden, Hostels.
 

Die Altstadt sieht nicht aus wie eine Altstadt, zumindest nicht in unserer Wahrnehmung. Wir essen Pho in kleinen gefliesten Küchen, in denen Plastikbottiche mit Hühnerteilen stehen. Auf den Tischen hauchdünne Servietten, mit denen man niemals die Hände sauber kriegt. Junge Leute in Fake-Nike-Wear sitzen draußen auf den Hockern und essen Suppe, sie holen ihre Smartphones raus und reden kein Wort.

Wir treffen einen Deutschen in der Ly Quoc Sur Street – Tank Top, Snapback-Kappe –, der uns erklärt, dass sich abends alle Ausländer in der Ma May Street treffen, vor dem „Hanoi Backpackers“. Wir sind noch einigermaßen orientierungslos und merken uns diesen Tipp für später vor.

Nachmittags immer noch Gewühl in den Gassen, man schlendert über die Bürgersteige, weicht aus, geht über die Straßen, irrer Verkehr. Es gibt nichts, was einer Fußgängerzone nahekommt. In den Geschäften: Elektrogeräte, Körbe, Geschnitztes, Stühle und Tische, Schalen mit Perlmutt, Buddha-Figuren, Spielzeug, Nippes. Ein Künstler malt in seinem Shop Bilder von Botero und van Gogh nach.

Abends in der Ma May: Die Straße ist voll mit Leuten, Engländer, Deutsche, Australier, ein junger Typ aus Dubai, sechs Afrikaner aus Benin, die sich locker einen Joint anstecken, als würden sie vor der Tür in ihrem housing project abhängen, dabei sind sie sicher wohlhabend.

Auf den Bürgersteigen wird getrunken und sich angefreundet. Geschäftstüchtige vietnamesische Frauen versorgen die Ausländer mit Bier und Schnaps, der große Wodka kostet 80.000 Dong, ein kleiner 40.000.

Dieses allabendliche Programm nennt sich tatsächlich Pub Crawl. In der Disko im ersten Stock, vielleicht 200 Meter vom „Hanoi Backpackers“, läuft Musik zum Mitsingen, das Genre ist egal, ob „In Da Club“ von 50 Cent oder „Wonderwall“ von Oasis. In den Sitzecken wird geknutscht. Dann ist auch hier Schluss. Ein paar Vietnamesen mit Motorbikes weisen dann den Weg zum Roten Fluss – dort soll die Party weitergehen.

Tatsächlich befindet sich am Ufer des Stroms ein angeblich illegaler Club (was gar nicht sein kann): ein Rohbau, ein DJ, eine Bar, ein kleiner Außenbereich. Hier wird im Allgemeinen versucht, sich noch jemanden aufzureißen.

Zwei Schweizerinnen haben es auf uns abgesehen, aber wir stehen nicht zur Verfügung, was die Notwendigkeit, sich an einem Ort wie diesem aufzuhalten, eigentlich hinfällig macht.

Plötzlich taucht der Deutsche aus der Ly Quoc Sur auf. Wir hielten ihn, als wir ihn am Mittag trafen, für einen weltgewandten Typen, der ein sicheres Gespür dafür hat, wie man jeden Tag zu einem zufriedenstellenden Ende bringt. Er kommt auf uns zu, allein, und sagt, er sei nicht gut in „Kaltakquise“. Er redet idiotisches Zeug, um die Schweizerinnen zu beeindrucken. Die Gespräche kommen ins Stocken, irgendwann geht der Typ. Die Tragik: sich ein paar tausend Kilometer von Deutschland entfernt nicht mehr zu wünschen als eine flüchtige Bekanntschaft für die Nacht.

Die Luft am Fluss ist immer noch klebrig als wir beschließen, zurück ins Hostel zu laufen.

Die Erkenntnis des Tages: Vietnam, das ist ein bisschen wie Mallorca, nur mit Monsun und Mücken.

 

* * *

Fünf / Halong Bay

Sturm auf See

Halong Bay liegt vier Stunden von Hanoi entfernt an der Küste. Die Bucht mit ihren urzeitlichen Felsen gilt als das sehenswerteste Ziel in Vietnam. Unmöglich, das auszulassen.

Ausflug zur berühmten Halong Bay: die Riesensehenswürdigkeit, James-Bond-Kulisse, das Highlight jeder Vietnam-Reise, so steht es überall zu lesen. Eine Bootsfahrt durch die Bucht mit ihren Kalkstein-Monolithen erinnert daran, wie spitzbärtige Seefahrer mit ihren Dschunken Opium über das Meer geschmuggelt haben, es ist das Setting für einen ordentlichen Piratenfilm.

Halong ist nur als Paket zu bekommen, mit Busfahrt ab Hanoi, Bootstour und einer Nacht an Bord des Schiffes. Wir haben lange überlegt, welches Angebot sein Geld wert ist, und uns – wie wir am Ende sehen werden – doch falsch entschieden.

Der Bus stoppt nach zwei Stunden auf halbem Weg bei einer riesigen Souvenirhalle. Hier sollen die Reisenden fabrikgefertigtes Kunsthandwerk kaufen, vier Meter hohe Vasen und Porzellantiger in Lebensgröße (wie soll man die bitte transportieren?), lachende Buddhas aus Industriekunststoff, Schalen, Schüsseln und Tischuntersetzer. Der Ausflug nach Halong ist auch wieder ein kleines Verkaufsprogramm.

Am Hafen geht es, vorbei an zig anderen Touristengruppen, auf unser Boot.

Wir fahren auf die See hinaus, vorbei an den ersten Felsinseln, die aus dem Wasser ragen, weil hier ein riesiges Kalksteinplateau langsam versinkt.

Durch die Unterspülungen sehen die Formationen aus, als würden sie auf dem Wasser liegen und könnten sich – durch die Verstimmung eines launischen Gottes – so oder anders zueinander verschieben und Schiffe einfach zerquetschen.

Das Programm unserer Tour ist eng getaktet: Heute nachmittag schwimmen wir zuerst eine Stunde in einer Bucht. Alle runter vom Schiff, alle wieder herauf. Dann fahren wir Kanu. Abends gibt es nach dem Essen Karaoke an Bord, was unendlich nervig ist. Das Programm am nächsten Morgen: Besuch einer Höhle, dann Visite in einer Perlenfarm, wo man doch – bitte schön – gerne noch etwas Schmuck für zuhause kaufen darf. Nebel liegt über den Felsen, Tropfen schlagen im Meer ein wie Gewehrschüsse.

 

Auf dem Rückweg zum Hafen türmen sich die Gewitterwolken noch einmal bedrohlich auf. Ich gehe auf Deck, schaue der See beim Vorbeiziehen zu, lausche in den Regen.

Die gewaltige Dimension des Horizonts: Felsinseln so groß wie Häuser, doch von hier aus gesehen so winzig im Verhältnis zu den Wolkenbergen darüber, gewaltige Waben mit Schattierungen in Blau, Grau, Schiefer und Weiß liegen übereinander. Das Unwetter zieht von links ins Bild herein, wie eine dunkle Masse, die alles verschluckt. Die wenigen Boote auf dem Wasser sehen aus, als müsse es bald mit ihnen zu Ende gehen.

Das beeindruckendste Bühnenstück führt die Natur selbst auf und nicht unser Tourguide, der die ewig gleichen Banalitäten wiederholt. Der schönste Moment entsteht, als das eigentliche Touristenprogramm schon vorbei ist.

Vielleicht ist genau dieser Umstand das ganze Problem, wenn man beschließt, in zwei Wochen durch Vietnam zu reisen.

Foto Sturm Halong Bay

Hanoi ist der Schlusspunkt unserer Route. Von dort geht es für meinen Begleiter nach Hause und für mich nach Kambodscha. Wir werden noch einen Abend auf der Bui Vien sitzen, und auf dem Weg dorthin werden uns die Amüsierdamen fragen: „Where are you going?“

Kann man jemals eine Antwort auf diese Frage geben?

Für den Moment bleibt die Frage, was wir persönlich in Vietnam gefunden haben (außer natürlich der Zeit für die guten Gespräche, die unter guten Freunden geführt werden müssen, für die man aber zu Hause allzu oft keine Zeit findet). Oder waren wir einfach lost in Vietnam, mit uns und unseren Erwartungen an dieses Land, das die Vergangenheit schnell hinter sich lassen will, um schon morgen in der Zukunft aufzuwachen, als ein neues Malaysia, als ein neues Singapur?

Weil wir nicht wussten, was wir wollten, haben wir geschaut, was kam: eine durchgetaktete Tourismusindustrie, ein Land als exotische Kulisse für plumpe Urlaubsvergnügen, ein vermeintliches Individualreiseziel, das zu einem durch und durch kommerziellen Produkt geworden ist.

War das nun eine vertane Reise? Wenn man ständig Teil von etwas ist, zu dem man im besten Fall keinen Zugang findet und dem man im schlechtesten Fall ablehnend gegenübersteht – sollte man dann nicht einfach besser woanders hinreisen? Aber wie ist es dort?

Vielleicht. Aber es hat einen Reiz, die Wirklichkeit zu beobachten, wie sie ist. Kategorien wie „schön“, „malerisch“ und „authentisch“ greifen dann nicht. All diese Attribute treffen nur eingeschränkt auf Vietnam zu.

Das ist kein Problem. Es ist nur ungünstig, wenn einem das erst am Ende der Reise wirklich bewusst wird.

 

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Philipp Laage

Philipp Laage ist Reiseredakteur bei der Deutschen Presse-Agentur (dpa) und bloggt auf Philipp Laage – Geschichten vom Reisen. Die letzten weißen Flecken dieser Erde reizen ihn besonders, in den Bergen fühlt er sich immer am wohlsten.

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