Ich trinke Tee, viel Tee.
Ich esse Fischbrötchen. Immer wieder Fischbrötchen.
Und starre stundenlang aufs Wasser. Als eintönig empfinde ich das nicht. Im Gegenteil: Es ist die reinste Wohltat. Die milde Sonne genieße ich, als würde sie ein letztes Mal für mich scheinen. Während ich mein Gesicht in den Wind halte, spüre ich, wie meine Haut sich fröhlich rötend dankbar reagiert. In der Ruhe der Nebensaison gehe ich ungewöhnlich früh ins Bett. Jede Nachricht, die mich vom Festland über mein Mobiltelefon erreicht, empfinde ich als störend. Zum ersten Mal auf einer Reise stelle ich das Handy auf Flugmodus.
Schön ist es. Doch möchte ich hier leben? Könnte ich das überhaupt? Was sind das wohl für Menschen, die dauerhaft auf so einer kleinen Insel wohnen? Weit ab vom Schuss. Ob sie sich hier draußen in der Nordsee vor dem Rest der Welt verstecken? Wie hat es sie wohl hierher verschlagen? Lockt das beschauliche Leben? Was hält sie hier? Die Ruhe? Die Übersicht? Die Natur? Was stellt die Insel wohl mit ihnen an?
Von Berlin nach Langeoog
Mayk D. Opiolla arbeitet an der Rezeption in meinem Hotel und gibt mir tolle Tipps für eine Radtour. Hinter seinem Tresen präsentiert er sich souverän. Adrett gekleidet, überaus höflich, sehr zuvorkommend. Ein netter Bursche, der seinen Job beherrscht und mir gleich sympathisch ist. Wie geschliffen er spricht und wie gut er sich ausdrücken kann! Er beeindruckt mich irgendwie sofort.
Am Abend kommen wir endlich ins Gespräch. Mayk lebt seit April 2014 fest auf der Insel. Einen wahrhaft goldenen Oktober erlebte er im Jahr 2012 während der Zugvogeltage. Frisch verliebt erlag der gelernte Bibliothekar und Werbetexter – wusst’ ich’s doch! – dem Zauber der Insel, die er seit Kindheitstagen kennt, endgültig. Langeoog präsentierte sich noch schöner, romantischer und inspirierender denn je. Ein Traumurlaub mit vielerlei Folgen.

Mayk lebt nun nicht mehr in Berlin, sondern auf Langeoog, wo er im Hotel Logierhus seine Brötchen verdient. In seiner Freizeit genießt er die Natur, die ihn ganz offensichtlich dauerhaft inspiriert: Auf der Insel entstehen wunderschöne Zeichnungen ¬– am liebsten malt er Vögel – und ein zauberhafter Blog „Geflügel mit Worten“. Gerade sei sein erstes Buch erschienen, sagt er. Als Mayk mir dieses mit einer Widmung versehen schenkt, bin ich regelrecht gerührt. Noch am selben Abend beginne ich zu lesen. Ich verschlinge dieses Buch. In „Momentaufnahmen“ sinniert Mayk auf 130 Seiten vom Schmerz einer gescheiterten Beziehung und einer ewigen Liebe: Der zu Langeoog.
Badewannendampferkapitän
Aus Liebe zur See wurde Holger Damwerth, der auf Langeoog aufgewachsen ist, Kapitän. Vier Streifen zieren seine Uniformjacke. Früher war er auf großer Fahrt unterwegs, hat die Weltmeere, ja sogar das Eismeer befahren. Nicole, die als Lektorin gearbeitet hat, wiederum lockte die Liebe zum Kapitän auf die Insel und zugleich auch aufs Schiff. Seit die beiden verheiratet sind und eine Familie mit sage und schreibe acht Kindern (!) gegründet haben, bilden sie nicht nur privat, sondern auch beruflich ein starkes Team.

Die MS Flinthörn, ihr Schiff, nennen sie selbst ein gemütliches „Allwetterschiff“ und meinen damit, dass man auf der Flinthörn nicht nur bei strahlendem Sonnenschein schöne und vor allem unterhaltsame Touren drehen kann. In den zwei Salons sei es sogar bei Schietwetter muckelig warm. Außerdem wärmen heiße Schokolade, Kaffee oder Sanddorn-Grog aus der Kombüse ja bekanntlich von innen. Gäste, so liest man auf der Webseite der Reederei Damwerth bezeichnen die Flinthörn, auch mal liebevoll als „Badewannendampfer“ weil sie aussieht, wie die bauchigen Spielzeugschiffe, die man Kindern zum Plantschen in die Wanne setzt. Ein bisschen rundlich eben. Auch schon bei Gästen gefallen, die Bezeichnung „Waffeldampfer“, weil Nicole Damwerth bei Bedarf en gros in ihrer Kombüse leckere Waffeln nach ihrem Geheimrezept produziert.

Während der Sommermonate fahren die beiden mehrmals täglich samt Touristen mit der MS Flinthörn raus aufs Meer. Cocktail-, Wattlehrfahrt und so. Als mir Holger Damwerth seine Flinthörn, die nach einem Inselabschnitt im Südwesten von Langeoog benannt ist, von innen zeigt, ist dies außerhalb der Saison.
Während der Kapitän letzte Vorbereitungen für die morgen anstehende Seebestattung trifft, dafür die Tische im Salon mit schwarzen Tüchern deckt, philosophiert er gelassen über den Lauf des Lebens. Es gibt Tage, da fährt er morgens Richtung Baltrum zu den Lieblingen der Nordsee, den drolligen Seehunden, die dort auf Sandbänken liegen und für Touristen posieren. Später schippere er mit einer fröhlichen Hochzeitsgesellschaft der Küste entlang. Am Nachmittag gehen dann bei der Piraten- und Meerjungfrauenfahrt 40 kreischende Kinder an Bord. In der untergehenden Sonne folgt eine Seebestattung wie morgen.

Hochzeiten, Kinder, Todesfälle, Firmenfeiern, Liebesschwüre, Abschied, Glück und Tränen – alle Facetten des Lebens vereint auf einem Pott. Das mache zwar gelassen, aber nicht gleichgültig. Einen Tag später bin ich bei Damwerths zu Hause eingeladen. So viel geballte Lebensfreude auf relativ kleinem Raum habe ich nie zuvor erlebt. Dabei sind nur vier von acht Kindern daheim. Eines der anwesenden Mädchen hat Geburtstag. Im Wohnzimmer dominiert am Gabentisch daher die Farbe Rosa. Nicole Damwerth ist mindestens so gelassen wie ihr Mann. Im Gekreische und Gewusel erzählt sie – ganz en passant – von Kinderbüchern, die sie schreibt und illustriert.
Am nächsten Morgen stehe ich in der Inselbuchhandlung. Mit „Amelie und der Schatz des Wikingerschiffs“ unterm Arm verlasse ich den Laden.
Dann sitze ich am Strand und versinke genüsslich in einem Kinderbuch…
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