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The Travel Episodes

Bild Bule

„Heute kommt eine Bule in unser Dorf. Großvater hat mit den Alten darüber gesprochen. Ich weiss nicht, was das ist, aber es muss etwas Aufregendes sein. Ich saß zwischen den Cassavastauden und traute mich nicht zu fragen. Putri sagt, er weiß, was das ist. Er hat schon mal eine gesehen, als er mit Papa den Berg herabgestiegen ist, um Cassava zu verkaufen. Ich bin so aufgeregt, dass ich meine gebackene Banane nicht essen kann. Putri freut sich und lacht mich nur aus. Er will mir nicht sagen, was eine Bule ist…“

Barfuß stehe ich auf dem nassen Steinboden des dunklen Bambusverschlags neben dem Haus. Ein Loch oberhalb der Tür lässt gerade genug Licht durchschimmern, um den Wasserbottich und die Plastikkelle zu sehen. Nebenan grunzen die Schweine. Fünf sind es. Drei davon haben Ferkel. Um mich herum surren die Moskitos. Genussvoll kippe ich mir eine Kelle Wasser nach der anderen über den Kopf, wasche Staub und Schweiß der langen Reise von mir. Ich bin in Ruteng, auf der Insel Flores, einer der kleinen Sundainseln Indonesiens. Der Waschraum gehört den Verwandten meiner Freundin Gutri. Aufgewachsen ist sie auf Flores, seit vier Jahren lebt sie auf Bali.

Wir kannten uns erst zehn Minuten, als sie mich einludt, mit ihr ihre Familie zu besuchen.

Das war vor vier Tagen bei einem Kaffee in Sanur, Bali.

Wir wollen heute noch in das Dorf ihrer Großeltern. Gerade erst habe ich erfahren, dass sie eine Dankeszeremonie halten werden, Caca Selek genannt. Dafür, dass Gutri und ihre Brüder die Universität abgeschlossen haben. Für den Schutz, den die Vorfahren ihnen außerhalb des Dorfes geschenkt haben. Flores ist zum Großteil katholisch, die animistischen Traditionen und die Verehrung der Vorfahren wurden aber trotz jahrelanger Mission der Portugiesen nie ganz aus den Traditionen der meisten Stämme gelöscht. Zwei Stunden Autofahrt, dann eine Stunde Fußmarsch durch den Regenwald erwarten uns.

Erfrischt und erwartungsvoll trete ich ins Haus ein. „Das Schwein muss erst geschlachtet werden.“ Ich höre diesen Satz und mein Magen krampft sich zusammen. Schweine sterben laut. Sehr laut. Gutri liest mein Gesicht und versteht: „Wir gehen in den ‚Warung’ Café trinken. Ich kann das auch nicht mit ansehen.“ Das Schwein wird als Geschenk für das Dorf mitgebracht. Besser gesagt, die Schweineteile.

Als wir zurückkommen liegt der Schweinskopf zum ausbluten in einem Plastikeimer, die Brüder hocken barfuß und oberkörperfrei auf dem Boden, zerhacken das Fleisch. Blutspritzer auf den Armen und die Hände rot gefärbt. Der Onkel spült die Gedärme. Der Hund an der Kette springt aufgeregt im Kreis.

In der Luft liegt der süße, beißende Geruch von Blut.

Dann fahren wir los zu den Großeltern. Gutri, ihre Geschwister und ich. Die Eltern kommen später mit dem geschlachteten Schwein nach. Zu einem Mix aus Oasis, Bob Marley und Adele rumpeln wir im Jeep durch die Berge. Aus der Straße wird erst ein Weg, dann eine Schotterpiste. Vor einem Schlammloch parken wir den Jeep. Wir wandern im Regen durch die Dämmerung des Dschungels die Berge hoch. Die Flipflops im Matsch unbrauchbar geworden, geht es barfuß weiter. Völlig durchnässt von Schweiß und Regen erreichen wir das Dorf. Wir werden bereits erwartet. Alle wollen mich sehen. Mich, die Weiße. Die, die von weit her kommt. Die kaum Bahasa spricht.

Drei Kinder verstecken sich hinter dem Sarong der Mutter. Der aus Baumwollfasern gewebte bunte Stoff dient Frauen wie Männern um die Hüfte gewickelt als Kleidungsstück und nachts als Decke. Ein kleiner Junge sitzt auf der nassen Holztreppe und starrt mich mit seinen braunen Augen an. Sein Haar ist kurzgeschoren. Er trägt ein Trikot vom FC Barcelona. „Wie diese Sachen nur immer in die entlegensten Ecken der Welt kommen“, denke ich mir. Ich knie mich vor ihm hin und verstecke mein Gesicht hinter beiden Händen. Dann ziehe ich sie ruckartig weg und rufe „Kuckuck!“. Er lacht. Ich strecke ihm meine Hand hin, er schlägt ein.

Jetzt sind wir Freunde.

Wir werden in das größte Haus des Dorfes eingeladen. In einem kaum beleuchteten Raum versammeln sich Alte und Kinder auf Bananenmatten auf dem Boden. Gutri und ihre Geschwister begrüßen alle und stellen mich vor. Die Frauen nehmen meine rechte Hand mit beiden Händen und drücken erst die rechte, dann die linke Wange an meine. Die Männer schütteln meine Hand, beugen kurz den Kopf und legen ihre rechte Hand ans Herz. Ich tue ihnen gleich. Ein Zeichen des Respekts. Das Licht der einzigen Glühbirne legt den Raum in ein seltsames Flackerlicht. Schatten huschen über die blanken Steinwände. Draußen brummt ein Dieselgenerator. Gutri platziert mich in der Mitte der Frauen. Meine Indonesisch-Kenntnisse beschränken sich auf grundlegende Floskeln, Englisch spricht außer Gutri niemand. Selbst mit ihren Brüdern kommuniziere ich mehr per Handzeichen und Grimassen. Jedoch erklärt mir Gutri detailliert während der ganzen Zeit, was die Dorfbewohner von mir halten. Welche Fragen sie Gutri über mich stellen, was sie verwundert, was sie denken. Und sie erzählt mir ihre Geschichten, wer aus welchem Dorf kommt, wie viele Kinder hat, welche Stellung im Dorf, wie der Tagesablauf ist.

Somit tauche ich ein in die Welt des Dschungeldorfes, erlebe ihr Leben, erträume mir ihre Geschichten.

Die älteren Kinder laufen los und machen Kaffee. Kaffee, der hier überall wächst. Dazu bringen sie in Kohle gebackene Bananen. Ich bin fasziniert. Und die Zeremonie hat noch nicht mal angefangen. Die Gesichter der Frauen sind so fein und zart. Tiefe Falten legen sich um braune Augen und kleine Nasen. Mit gekrümmtem Rücken hocken sie auf dem Boden und verschwinden fast in ihren bunten Sarongs. Ihre Gesichter erzählen Geschichten. Geschichten eines langen Lebens im Regenwald, auf dem Cassavafeld, der Geburt vieler Kinder. Ihre Zähne sind schwarz-rot. Das Ergebnis des jahrelangen Kauens der Betelnuss. Während wir durch den Regenwald liefen, erzählte mir Gutri die Geschichte ihrer Familie. Wie sich ihre Großeltern kennengelernt haben, welche Bräuche es gibt, wen ich dort alles antreffen werde. Der Kaffee wärmt mich, mein nasses Shirt klebt am Körper und ich lasse die Eindrücke auf mich wirken. Dann betritt der Großvater den Raum.

„Ich wurde im Jahr des großen Regens geboren. Als die Cassavafelder überschwemmt wurden und der Kakao noch an der Staude verfaulte. Als der Berg auf unser Dorf rutschte. Das war vor 76 Jahren. Meine Eltern gaben mir den Namen Klemens. Unser Volk ist katholisch, seit Generationen haben unsere Kinder meist christliche Namen. Meine erste Frau war das schönste Mädchen im Nachbardorf – Lucia. Ich bat meinen Vater, bei ihrem um ihre Hand für mich anzuhalten. Unsere Onkel verhandelten den Brautpreis. Die Familie des Mannes zahlt für die Frau. Als Dank dafür, dass sie sie aufgezogen haben und als Zeichen, dass der Mann reich genug ist, für sie zu sorgen. Für ein Kalb und zwei Hühner durfte sie mich heiraten. Bei der Zeremonie wagte ich kaum, sie anzusehen. Ihre Augen waren tiefschwarz und wirkten weise. Obwohl sie erst achtzehn Jahre alt war, war sie weise. All die gemeinsamen Jahre nach der Hochzeit war sie meine Beraterin. Ihr anmutiger Rücken blieb auch nach der Geburt unserer sieben Kinder und all den Jahren harter Arbeit auf dem Feld gerade. Ihr Tod kam langsam. Der Husten wurde trockener, sie aß nicht mehr. Am Ende war sie wieder wie ein Kind. Lag klein und zerbrechlich auf der Matte zwischen den Kissen, gehüllt in ihren Sarong. Nur das Schütteln des Hustens bewegte sie noch. Bis auch das ausblieb. Als sie starb, krabbelte ein blauer Käfer über ihre Hand. Unsere Söhne und Töchter kamen aus Ruteng, Mborong und den anderen Dörfern. Drei Tage hielten wir Wache für ihren Geist. Dann begruben wir sie neben unserem Haus. Unsere nächsten Verwandten ruhen stets neben uns. Neben meiner Frau liegt meine Mutter. Heute kommen meine Enkel zu Besuch. Wir werden Caca Selek halten. Meine Enkelin Gutri war zuletzt vor drei Jahren hier.“

Es wird kurz still. Er begrüßt den Sohn, die Enkel, dann mich. Er ist sehr groß, schlank, die Haare sind weiß, hinter den Ohren wachsen sie in wilden Büscheln. Auf dem Kopf trägt er die Sapu, eine traditionelle Kappe. Er ist 76, sein selbstsicheres Auftreten verrät seine Position. Ein fehlender kleiner Zeh, die gegerbte Haut und die vielen Falten verraten Alter und ein Leben, ausgerichtet an Erntezeiten, Fütterungszeiten, Regenzeiten. Er legt meine Hand in seine großen, rauen Hände, ich senke meinen Blick und verbeuge mich leicht. Dann blicke ich in seine erfahrenen Augen.

 

 

Der Raum füllt sich. Mehr Alte, mehr Kinder. Mehr Dorfbewohner, die die Weiße sehen wollen. Manche stehen schüchtern im dunklen Türrahmen. Eine junge Frau mit Baby im Tragetuch steht lange dort, blickt zu mir, fixiert dann ihre Füße. Gutri geht auf sie zu, ermuntert sie, einzutreten. Unsere rechten Hände berühren sich, Wange an Wange, erst rechts, dann links. Sie setzt sich neben uns, eine Cousine. Das Baby lutscht an einem Stück Banane. Jetzt versammeln wir uns alle zu einem großen Kreis, die Kinder bringen weitere Runden Kaffee und Alkohol, gewonnen aus den Früchten einer speziellen Palmart. Für die Männer. Frauen trinken nicht. Sie kauen Betelnuss. Aus einem Plastikeimer wird der zähflüssige, weiße Saft durch ein Sieb in die schon klebrigen Gläser gegossen. Eines wird mir als weiblichem Ehrengast gereicht. Vierzig Augenpaare beobachten meine Reaktion. Kein Entkommen. Ich nippe am klebrigen Rand des Glases. Der Alkohol schmeckt sauer und ist zäh im Abgang. Meine Gesichtsmuskeln gehorchen mir nicht, ich muss ein absurdes Bild abgeben. Schüchtern hebe ich meinen Blick und schaue in die Runde. Dann zeigt mein kleiner Freund auf mich, lacht los, bricht das Eis und das gesamte Dorf bricht mit ihm in Gelächter aus.

„Bule! Bule!“ Die Bule, das bin also ich. Die Ausländerin.

Mein Herz springt, nur ganz kurz, und ich stimme mit ein.

Ich sitze im Dschungel in Flores in dem Haus des Großvaters meiner Freundin und bin überwältigt. Von der Erfahrung, von den Überraschungen, die das Leben dir anbietet, wenn du nur „Ja“ sagst. Wenn du die weichgekaute Komfortzone verlässt, die du dir jahrelang, Schicht um Schicht, aufgebaut hast: deine Wohnung, dein gemütliches Bett, das saubere Bad und den pünktlichen Nahverkehr.

Ich habe das getan, was mir das Leben schon seit Jahren ins Ohr geflüstert hat: „Das Abenteuer wartet schon, wage es, lass alles hinter dir, zieh los. BEWEG DICH!“. Und jetzt, hier, in der Mitte des Dorfes, den Geschmack eines sauren Alkohols auf der Zunge, flüstert das Leben nicht mehr. Es schreit! Es jubelt! Es tanzt! Es zeigt mir mit allen Sinnen: du bist hier richtig! Das ist es, was du gesucht hast. Das kantige, wilde, raue, lustvolle Leben! Und in mir spüre ich diese Ruhe und das Glück, welches sich in den letzten 1,5 Jahren erst eingeschlichen und dann festgesetzt hat.
Neben dem Haus ist ein Bretterverschlag. Auf dem festgetretenen Erdboden gibt es zwei Feuerstellen. In der Glut liegen immer ein paar Bananen, auf dem Feuer steht ein großer Bottich mit Wasser, schwarzer Ruß hat sich am unteren Drittel des Topfes festgesetzt. Auf dem zweiten Feuer kocht Reis. Barfuß betrete ich den Raum, hocke mich zu den Frauen und Kindern. Die Frauen bereiten das Essen zu. Gutris Cousine geht mit ihrem Baby um das Feuer.

„Vorsichtig schiebe ich das Holz weiter in die Glut. Diese Tage muss das Feuer immer brennen. Muss Wasser kochen für Kaffee, muss kiloweise Reis kochen, muss das Schwein grillen. Heute wache ich über das Feuer. Wenn ich frischen Kaffee ins große Haus bringe, sehe ich die Bule. Sie ist so anders. Ihre Haare sind wie die Schale einer reifen Kakaofrucht, golden. Sie trägt ein Hemd und Hosen und sitzt so seltsam. Gestern hab ich sie hocken sehen, aber nicht auf flachen Füßen wie wir, sie balanciert auf ihren Zehenspitzen. Meine Brüder reden über sie, machen Scherze. Aber ich sehe in ihren Blicken, dass sie gerne mit ihr sprechen würden, ihre weiße Haut berühren, verstehen, woher sie kommt. Oder ist das nur mein Wunsch? Meine Cousine sagt, die Bule ist schon in vielen Ländern gewesen. Nicht nur auf den indonesischen Inseln, sondern weiter weg. Da, wo es keine Inseln gibt. Keinen Kakao und kein Cassava. Was essen die Menschen, wenn sie kein Cassava haben? Nur Reis? Die Bule lächelt mich immer an. Heute saß sie eine Stunde mit mir in der Hütte am Feuer und hat zugesehen, wie wir Knoblauch und Curcuma stampfen, Papayablätter kochen, Cassava schälen. Keiner passt mehr in die Hütte. Alle Kinder drängen sich um sie. Mein kleiner Bruder ist verliebt in sie, klettert immer auf ihren Schoss. Sie macht Bilder mit einer Kamera. Meinem Bruder erklärt sie, wie es geht. Er ist erst sechs, aber sehr schlau. Mit dem Band um den Hals ist er stolz mit der Kamera rumgelaufen und hat alles fotografiert. Auch Mama. Die Bule hat ihr dann auf einem bunten Fenster in der Kamera das Foto gezeigt. Mama hat fast geweint, so stolz war sie auf unseren Bruder.“

Zu zwanzigst haben wir auf den Matten im großen Raum geschlafen.

Die Nacht komponiert eine bizarre Sinfonie aus Schnarchen, Stöhnen und den Hähnen, die ab drei Uhr morgens den Sonnenaufgang herbei schwören wollen. Um fünf Uhr stehen wir wieder auf, es ist noch dunkel. Der Dieselgenerator wird nur abends für ein paar Stunden angeschmissen. Die Frauen kochen Kaffee, backen Bananen in der Glut. Ich weiß nicht, wie die Zeremonie heute ablaufen wird, aus Gutri ist nicht viel herauszubekommen. Für sie sind diese Feste normal. Also tue ich, was mich das Reisen gelehrt hat: abwarten und lächeln. Zum Sonnenaufgang drehen wir beide eine kleine Runde durchs Dorf. Begleitet von einer Horde Kinder. Ich bekomme eine Einführung in Flores Flora. Cassava, Bananen, Kakao, Papaya, Mais, Zuckerrohr. Hier muss man nur den Samen auf den Boden schmeissen und alles wächst. Die jungen Blätter des Papayabaumes werden als Beilage gekocht, sie schmecken bitter. In eine der Hütten treten wir ein. Eine alte Frau begrüßt uns mit müdem Lächeln. Auf dem Boden ist ein Berg aus Matten, Sarongs und Kissen. Dazwischen verschwindet fast eine noch ältere Frau. Gutris Urgroßmutter. Sie ist 94 und seit mehreren Wochen krank. Ihre jüngste Tochter, selbst schon fast 70, pflegt sie Tag und Nacht. Bettet sie um, kocht Brei, streichelt unentwegt die Arme und Hände ihrer alten Mutter. Sie hat selbst nie geheiratet. Die jüngste Tochter bleibt oft bei der Familie, um sich später um die Eltern zu kümmern.

Als die Alte uns sieht, fängt sie an zu weinen.

Wir halten auch ihre Hand. Wie Papier fühlt sie sich an. Sie weiß, dass sie bald sterben wird. Wir wissen es auch. Im Dorf kann man den Kreislauf von Leben und Tod gut beobachten. Alle kümmern sich gemeinsam um die Kinder (ich wusste nie, wer wirklich die Mutter welcher Kinder ist), die Alten werden integriert, mit höchstem Respekt behandelt und bis zum Ende begleitet. Gutri macht einen Scherz über die weißen Haare der Urgroßmutter, sie hört auf zu weinen und verfällt in glucksendes Gelächter. So sind die Menschen hier. Sie lachen, sie scherzen, haben keine Angst vor Gefühlen, dem Tod oder Berührung. Was ich hier erleben darf, ist nicht mehr als die grundlegende Kultur des Dorfes, geprägt von Liebe, Respekt und Achtsamkeit im Miteinander. Und doch erscheint es mir so besonders, wenn ich an all die Diskussionen und ernsten Gesichter unserer westlichen Welt denke. Am nächsten Tag werden wir sie noch einmal zum Abschied besuchen. Gutri weiß, es wird das letzte Mal sein, dass sie sich berühren.

Wieder zurück, waschen wir uns alle vor dem Haus. Wir ziehen den Sarong bis über die Schultern und waschen uns wie in einem kleinen privaten Zelt. Dann wickeln wir uns festlich bestickte Sarongs um die Hüften und ziehen Blusen an. Nach und nach versammeln sich um die 60 Menschen im Raum. Männer auf der einen, Frauen auf der anderen Seite. Wenn ich mich bewege, aufstehe, um Fotos zu machen, meinen Kaffee trinke, folgen mir die Blicke der Männer. Aber es sind keine anzüglichen Blicke, eher schüchtern. Sie wundern sich über mich. Einer kommt auf mich zu: „Miss, may I introduce myself. My name is Johann.“ Einer der wenigen, der Englisch spricht. Er lebt nicht mehr im Dorf, ist nur zur Zeremonie angereist. Wir unterhalten uns kurz. Als er zurück zu den Männern geht, lachen alle, klopfen ihm auf die Schulter, sagen Sachen wie „Hochzeit“ und „Freundin“. Ich wische mir mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn.

An der langen Seite des Raumes, vor einem kleinen Altar mit Marienstatue und Bildern der Vorfahren sitzt der Großvater. Links von ihm die Brüder Hans und Gustav, rechts davon Gutri und ich. Vor ihm steht ein Teller. Er spricht langsam und beschwörend. Kein Bahasa Indonesia sondern Flores Sprache. Nach und nach füllt er den Teller mit einem Löffel Reis, einem Schluck Alkohol, Tabakblättern, Geld. Geschenke für die Vorfahren. Einer der Jungen kommt mit einem weißen Huhn auf dem Arm in den Raum. Da dämmert mir, dass Tabak und Reis wohl nicht die einzigen Geschenke sein werden. Ich blicke zu Gutri, sie bestätigt meine Ahnung. Das Huhn wird geopfert. Der Junge sitzt jetzt vor den Großvater, hält das erstaunlich ruhige Huhn auf dem Schoß und streichelt seine Federn. Immer wieder. Das Zeremoniell geht weiter, der Großvater segnet das Huhn, von irgendwoher wird eine Steinschale gereicht. Darin liegt ein großes Messer. Das Huhn ist jetzt nicht mehr so ruhig. Es zappelt in den immer noch streichelnden Händen des Jungen. Vier Männer gruppieren sich um uns.

Einer hält den Körper, ein anderer streckt den Hals des Huhnes lang.

Es ist fast ganz weiß. Gutri flüstert: „Das Huhn muss vorwiegend weiß sein und darf heute morgen kein Ei gelegt haben.“ Der Großvater nimmt das Messer und schneidet langsam die Kehle des Huhnes durch. Langsam. Es zappelt weiter. Blut tropft in die Schale. Ich schaue weg, doch Gutris Mutter bedeutet mir, Fotos zu machen. Jetzt wird es in der Mitte aufgeschnitten und eine Sehne herausgeholt. Diese muss weiß und gerade sein, dann bringt es Glück. Sie ist es. Die Dorfbewohner kommen näher, um einen Blick auf das geöffnete Huhn zu haben. Zustimmendes Gemurmel. Für mich als Vegetarierin eine Erfahrung. Zum Essen gibt es heute Schwein und Huhn. Beim Essen setze ich mich neben meine Lieblings-Alte. Sie ist die einzige Frau, die neben der Betelnuss auch Alkohol trinkt, die mir immer wieder verschwörerisch zuzwinkert. Es ist eine der Schwestern Gutris Großvaters. Sie ist um die siebzig.

„Die Bule ist schon 33 Jahre alt, aber sie ist nicht verheiratet. Sie hat auch keine Kinder. Ich weiß, dass dies in anderen Kulturen so ist. Mit 33 hatte ich bereits meine fünf Kinder. Ich mache mir Sorgen um sie. Ganz alleine, ohne ihre Familie. Wer behütet sie denn? An wen wendet sie sich bei Fragen? Ich möchte sie beschützen. Gemeinsam saßen wir gestern auf den Matten und heute in der Küche. Ihre Zähne sind sehr weiß. Heute haben wir ihr gezeigt, wie man die Betelnuss mit Tabak und Kalk mischt und in der Backe verschwinden lässt, um den Saft zu saugen. Ich glaube nicht, dass es ihr geschmeckt hat. Sie hat bereits nach kurzer Zeit den roten Saft in den Plastikeimer gespuckt, den wir wie immer herumreichen. Es ist schön, dass das Dorf heute zusammenkommt. Nur meine Mutter und meine jüngste Tochter fehlen. Meine Mutter ist zu schwach, um die Hütte zu verlassen. Bald werden wir wohl Totenwache halten.“

Nachdem das Huhn geopfert und die letzten Worte gesprochen sind, huschen die älteren Kinder aus dem Raum, um das Essen zu bringen. Schalenweise roter und weißer Reis, Bohnen mit Knoblauch, gekochte Cassava, Papayablätter, gegrilltes Schwein und Huhn. Dazu Chili in allen Formen. Roh, gekocht, als Soße, gemischt mit Zwiebeln und Limetten. Alles wird erst in der Mitte des Raumes platziert. Dann werden die Schalen von den Kindern herum gereicht. Für mich gibt es vier Eier. Ich denke, keines davon war von dem geopferten Huhn. Drei Eier gebe ich an Gutri, Hans und Gustav weiter.
Am nächsten Tag verabschieden wir uns von allen. Die junge Frau mit Baby übergibt mir eine Papaya. „Terima kasih“ sage ich, während ich die schwere Frucht mit beiden Händen entgegen nehme. Auf dem Weg nach unten erzählt mir Gutri detailliert, was die Dorfbewohner über mich gesagt haben. Wie sich die alten Frauen um mich gesorgt haben, die jungen Frauen neugierig und der Großvater voller Respekt für mein Abenteuer waren.

„Caca Selek“ – eine Episode in meinem Leben. Jedoch nur, um Platz für eine neue zu machen. Alles ist im Fluss, nichts ist von Dauer. Selten war es mir so bewusst wie hier, in einem kleinen Dschungeldorf in Indonesien. Dann beginnen wir den Abstieg. Alle winken zum Abschied, mein kleiner Freund nimmt meine Hand und läuft noch ein ganzes Stück mit. Den Berg hinunter.

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Isabel Gür

Isabel hat in gleichen Maßen Lust auf und Respekt vor Abenteuern. Deshalb hat sie vor eineinhalb Jahren ihren Job als Nachhaltigkeitsberaterin gekündigt, ihre Sachen verkauft und ist losgezogen. Ist durch Patagonien gewandert, hat im Amazonas in einer Hängematte gelebt, ist knapp mit dem Leben bei einer Revolte in Kolumbien davon gekommen. Und hat dann die Ruhe und Gelassenheit Asiens für sich entdeckt. Auf more-than-travelschreibt sie über Länder und Herausforderungen.

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