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The Travel Episodes

Shortlist: Iran

Randvoll ist mein Herz

Ich mache Ferien auf der Achse des Bösen und finde dort wahre Schönheit.

Von Nadine Pungs

Polizisten stürmen den Bus. Sie sprechen nicht, sie suchen. Ich zupfe nervös mein Kopftuch zurecht. Taschenlampenlicht. Getuschel der anderen Reisenden. Ich höre mein Herz. Und unseren Busfahrer laut schimpfen. Er steht draußen, umringt von acht strengen Gesetzeshütern auf einem schwach beleuchteten Vorplatz der Polizeistation. Irgendwo im Iran. Irgendwann in der Nacht. Ich verstehe nichts. Mein Farsi beschränkt sich auf ein paar Höflichkeitsfloskeln. Alle sind nun fehl am Platz. Was ist hier los? Warum hat die Polizei unseren Bus herausgefischt? Niemand spricht Englisch und mein Handy hat keine Verbindung mehr zur Außenwelt. Ich sitze fest im iranischen Nirgendwo. Sprachlos.

Weitere Polizisten preschen in den Bus. Klopfen an die Decke, schauen unter die Sitze, reißen Wandverkleidungen herunter und entdecken Geheimfächer. Voll mit Ware. Verbotener Ware. Säckeweise heben sie den Schatz aus. CDs, T-Shirts, Konserven und einige Flaschen harten Alkohol. Im islamischen Gottesstaat Iran ist schon der Genuss von Bier strengstens verboten. Es drohen hohe Geldstrafen und Peitschenhiebe.

Draußen wird gestritten. Rund fünfzehn Männer, Polizisten und die siebenköpfige Bus-Mannschaft, diskutieren und kreisen wie hungrige Wölfe um den Berg Schmuggelware.

Ich schaue aus dem beschlagenen Fenster und sehe meinen Rucksack im Staub liegen. Die Polizei durchsucht unser Gepäck. Ein Blitz trifft mich mitten ins laut schlagende Herz. Habe ich noch die heimliche Flasche Wein im Ranzen? Oder hatte ich sie schon getrunken? Ich weiß es nicht mehr. „Für einsame Nächte“, sagte mein Bekannter in Teheran als er mir den sündigen Rotwein in eine Pepsi-Flasche füllte. Ich stopfte sie dankbar in meine Tasche.

Jetzt ist die Nacht einsam. Wie viele Peitschenhiebe kriege ich wohl? 70, 80 oder 90?

Mir wird übel. Die Polizisten öffnen wahllos Koffer, befingern Kosmetikartikel und Schmutzwäsche. Ich starre auf mein Handy. Immer noch kein Empfang. Wenn ich jetzt aufstehe, aussteige und renne, wie weit komme ich?

Ich atme tief und ordne meine Gedanken. Streife durch Erinnerungsfetzen. Doch. Ich hatte den Wein bereits getrunken. Bestimmt. Ja, ich bin mir sicher. Natürlich. In der Karawanserei muss es gewesen sein. Ja, so war es. Ich beruhige mich. Schließe die Augen. Aber was ist, wenn mir jemand mit unlauteren Absichten etwas ins Gepäck geschmuggelt hat? Drogen? Während ich ahnungslos im Bus dämmerte. Sowas passiert doch. Ich hatte davon gelesen. Ich bin hier nur die sprachlose Touristin.

Nein, Schluss jetzt. Blödsinn. Keine beengenden Gedanken. Ich wollte es so. Hatte ich mir doch solche Situationen herbeigesehnt, das Abenteuer gesucht. Ich will ja Intensität. Ich will Lebendigkeit. Ich will Wahrhaftigkeit. Etwas, das bleibt. Ich will Hingabe. Fremd werden. Vagabundieren. Staunen. Ich will Schönheit und Melancholie. Ich bin süchtig. Sehnsüchtig. Mir fehlt der Mut, um zu bleiben. Deshalb muss ich gehen. Und deshalb bin ich hier. Allein. Im Iran.

Reisen ist anstrengend und lästig. Reisen ist mühsam und bitter. Und alleine reisen ist ein freier Fall. Es ist, als stünde man kurz vor dem Sprung aus dem Flugzeug. So stelle ich mir das vor. Unter mir nur Leere. Exit. Ich robbe zur Tür. Meine Füße auf dem Trittbrett, die Arme vor die Brust und der Kopf in den Nacken. Nochmal tief durchatmen. Absprung!

Gelandet bin ich in diesem iranischen Bus. Ich spüre das Leben. Und das ist gut. Gut, weil ich davon gekommen bin. Der Bus rollt an. Nach Stunden bangen Wartens. Die Polizei hat die Schmuggler verhaftet, nur der Busfahrer darf weiter. Was wird wohl mit den Männern geschehen? Können sie sich freikaufen? Werden sie ausgepeitscht? All das wegen ein paar billiger T-Shirts und einigen Flaschen Alkohol.

Die Landschaft zieht vorüber, der Tag bricht an. Die meisten Leute im Bus schlafen. Ich schaue aus dem Fenster. Die Sonne scheint und der Himmel ist wolkenlos. Wie ein großer blauer Fleck ist er über die Wüste gespannt.

In einem Interview antwortete der deutsche Schriftsteller Botho Strauß auf die Frage „Was fehlt Ihnen?“ mit der schlichten Aussage: „Das Schöne.“ Mehr nicht. Ich verstand ihn.

Der Berliner Philosoph Byung-Chul Han schrieb aufgrund dieser straußischen Feststellung ein ganzes Buch über „Die Errettung des Schönen“.

Wo ist sie? In unserem heutigen westlichen Verständnis von Schönheit gibt es in ihr keine Knäckse, keine Risse, keine Bruchstellen. Alles ist kugelrund gelutscht, faltenfrei, glatt geschliffen und ausdruckslos. Das wirklich Schöne hat jedoch Kratzer und manchmal Verletzungen. Es birgt Geheimnisse.

Im Iran sehe ich viel Schönes. Viele Risse und Bruchstellen. Viel nicht Gesehenes. Nicht nur die verschleierte weibliche Schönheit. Auch einsame Salzseen, bunte Berge, eine verlassene Fabrik, die sich aus dem Wüstensand erhebt, alte seelenvolle Gesichter, persische Ruinen, Mosaiken, tiefbraune Kinderaugen. Und immer wieder die unendlichen Sandmeere. Grau und beige. Als wäre die Farbe aus der Welt gewaschen.

Ich setze die Kopfhörer auf. In meinem Ohr singt Leonard Cohen. I came so far for beauty, I left so much behind.

 
 
Busfenster-Blick
 
 
Hinterm Horizont erscheint Shiraz. Die Großstadt im Süden. Der Garten des Iran.

Wir sind endlich angekommen. Ich steige aus, setze mich auf meinen Rucksack und warte, beobachte Busse und Menschen. Abschiede und Wiedersehen. Heimweh und Sehnsucht. Alles hier. Im Bahnhof. In mir. Es ist heiß und riecht nach Orangenblüten.

„Hello, where are you?“ fragt eine warme Baritonstimme am Telefon. Es ist Kourosh. Mein Host für die nächsten drei Tage und der beste Freund meines Teheraner Bekannten. Ich darf in seinem Haus wohnen – zusammen mit Schwester, Bruder, Schwägerin, Neffe, Nichte, diversen Couchsurfern und der 92 Jahre alten Mutter. Bisher hatten wir uns nur Textnachrichten geschrieben und ich bin neugierig, wer mich erwartet.

Kourosh lässt den Motor laufen, steht im Halteverbot. Ich hieve meinen Rucksack auf die Rückbank, steige ein und blicke in ein attraktives Gesicht. „Hi, I’m Kourosh.“ Lachfalten kräuseln sich um seine braunen Augen. Und ich beginne zu stottern, werde kleinmädchenschüchtern. Außer ein wenig englisches Gefasel vergesse ich sämtliche Worte. Ich beschränke mich aufs Lächeln.
Kourosh trägt mein Gepäck in ein freies Apartment. Er wohnt ein Stockwerk tiefer. Er lädt mich zum Frühstück am nächsten Morgen ein.

Fladenbrot, Frischkäse, Spiegeleier und schwarzer Tee. Während Kourosh aufdeckt, sitzt die zierliche Mutter auf dem Sofa und schaut eine iranische Spielshow. Ich winke ihr zu. Sie winkt zurück. “What’s your plan for today?” fragt mich Kourosh. Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich wusste es. Aber ich vergesse auch das. Kourosh grinst smart und schreibt die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in Shiraz auf einen Zettel. In Englisch für mich und in Farsi für die Taxifahrer. Und am Abend wolle er mich auf eine Party mitnehmen. Mein Blick vergräbt sich in sein persisches Gesicht. Die schwarzen Brauen, die geschwungenen Züge, die angegrauten Schläfen und in den Augen ein Licht, das brennt. „Okay.“ sage ich. Mehr fällt mir nicht ein.

Die Party ist in einem schicken Apartment, das auch in New York oder London als schick gelten würde. Die Leute sind schön und sympathisch. Es gibt Rohkost, Joghurt, laute Musik, Whiskey, selbst gemachten Wein und Joints.

Ich bin natürlich underdressed. Außer ein paar islamischen Hijabs habe ich nichts im Koffer. Verwirrt bin ich auch. Der Iran widerspricht sämtlichen westlichen Klischees. Nicht überall lauern die Mullahs. Nicht überall steht eine Atomanlage und viele Iraner haben noch nie im Koran gelesen.

Hier im schicken Apartment ist, wie so oft, von der vermeintlichen Achse des Bösen nichts zu spüren.

Mit diesem leidigen Begriff hat der damalige US-Präsident George W. Bush den Iran als Schurkenstaat stigmatisiert. Es gab jedoch nie eine Achse, denn Iran, Irak und Nordkorea pflegten keine Allianz und auch wurde diese Bezeichnung mittlerweile relativiert. Iran und Amerika sind unausgesprochene Verbündete im Kampf gegen die Taliban in Afghanistan und den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Irak und in Syrien geworden. Atomdeals werden geschlossen, Sanktionen aufgehoben. Doch in den westlichen Köpfen hat sich die Achse des Bösen festgezeckt.

Trotz all der berechtigten Kritik an Bushs Äußerung, bleibt das iranische Regime dennoch restriktiv und verletzt tagtäglich Menschenrechte. Das darf und muss immer wieder laut skandiert werden. Ein Ponyhof ist das hier ganz und gar nicht.

„What are you thinking?“ Kourosh lächelt mir zu. Die Drinks machen mich gesprächiger. Und so will ich von ihm wissen, wie er in diesem Land zurechtkommt. Ein Land, das offiziell die Genüsse des Lebens verbietet und als Sünde deklariert.

„You can see it here. Everybody does everything. In our private lifes we are free.” Jeder macht alles. Freiheit in den eigenen vier Wänden. Aber reicht das?

„It’s better to be a slave of your own country than a slave of a foreign country.“ meint Kourosh und leert sein Glas Whiskey. Ist das so? Besser Sklave der eigenen Regierung sein als von einer Besatzungsmacht? Die Iraner sehen, was in ihrer Nachbarschaft passiert. Gescheiterte Staaten. Der Mittlere Osten zerfällt. Sie wollen unabhängig bleiben.

Ich muss darüber nachdenken. Mit japanischem Whiskey klappt das allerdings nur bedingt. Betrunken bin ich trotzdem. Und deshalb fällt mir auch erst im Auto auf, dass ich mein Kopftuch verloren habe und gerade „oben ohne“ durch den Iran fahre. Benebelt und berauscht. In maßloser Sünde. Kourosh findet das lustig. Zum Glück ist kein Mullah in Sicht. Wobei der vielleicht um diese Uhrzeit auch betrunken gewesen wäre.
 
 
Shiraz
 
 
Am nächsten Tag streife ich verkatert durch die engen Gassen des Bazars. Ein Universum an Gerüchen und Geräuschen, Schmuck, Teppichen, Süßigkeiten und billiger Kleidung made in China. Mopedfahrer drängeln sich durch die Menschen, alte Männer schlafen in ihren kleinen Geschäften, Frauen begutachten Stoffe. Ich kaufe für ein paar Toman einen goldenen Armreif, der angeblich 50 Jahre alt ist und verlasse den schummrigen Bazar. Sonnenfinger streicheln mein Gesicht und es riecht immer noch nach Orangenblüten. Ein klappriges Taxi bringt mich zum heiligen Schrein Shah-e-Cheragh, in dem ein Bruder des Imam Reza begraben liegt. Also ein direkter Nachfahre des Propheten Mohammed. Auch als nicht muslimische Touristin darf ich die Pilgerstätte besuchen. Allerdings nicht ohne die besonderen islamischen Kleidervorschriften zu berücksichtigen.

Im Schrein besteht für Frauen Tschador-Pflicht. Den kann man sich kostenlos ausleihen. Ein großes meist dunkles Tuch, das nur noch das Gesicht frei lässt und übersetzt bezeichnenderweise „Zelt“ bedeutet. Im Alltag reicht der Hijab. Und das ist schon Herausforderung genug.

Kopftücher machen junge Mädchen zu alten Frauen. Ein Manteau oder eine Tunika verwischen die weiblichen Kurven. Oft ein Tschador. In manchen Teilen Irans versteckt gar eine Maske die Gesichter.
Ich trage den Schleier gerade einmal vier Wochen. Und es ist eine Plage. Mir geht das Kopftuch gründlich auf die Nerven. Es stört, es verdeckt meine Ohren und ich verstehe nur die Hälfte, es rutscht, es fliegt im Wind umher, es hängt im Gesicht, es ist warm und beengend.

Ich jammere wie eine naive Westlerin und zergehe im Selbstmitleid. Wie lästig ist es wohl für die wirklich Gefangenen? Bin ich doch schließlich freiwillig hier und wusste darum.
Der Hijab muss immer getragen werden, sobald man die eigenen vier Wände verlässt. Und selbst dort bleiben konservative Muslima verhüllt wenn nicht verwandter männlicher Besuch zu Gast ist. In modernen Häusern wird der Schleier aber sofort durch ein Minikleid getauscht.

Fast jede Frau, die ich im Iran danach frage, hasst den Hijab.

„We want to be free!“ meint eine Studentin rebellisch, die mich mit „Welcome to Iran“ anspricht. Ihr Sehnsuchtsland sei Frankreich. Das Tuch sitzt dabei weit auf ihrem Hinterkopf und bedeckt nur locker den Haarknoten. Es sei zum Schutz der Frau, heißt es. Da frage ich mich, warum ein (vielleicht nicht existenter) Gott dann überhaupt weibliche Schönheit erschaffen hat?

Und so wundert es nicht, dass moderne Perserinnen Wert auf Farbe und Make-Up legen. Perfekt geschminkt und nicht selten ohne Nasenkorrektur. Wenn nur noch das Gesicht bleibt, soll es schön sein So sieht man im Iran viele hübsche Frauen. Und diese wirken ganz und gar nicht unterdrückt, sondern selbstbewusst und willensstark. Der Hijab wird trotzdem getragen.

Um in den heiligen Schrein zu gelangen, muss ich durch einen, von den Männern getrennten, Eingang gehen. Eine Art Schleuse. Dort werde ich für alle durch einen weißen, geblümten Tschador als Ausländerin kenntlich gemacht. Als ebendiese darf ich danach erstmal warten. Auf meine extra herbeigerufene Schrein-Fremdenführerin.

Ich parke also auf dem Schleusen-Stuhl und beobachte kuriose Szenen: Zwei Mitarbeiterinnen tasten die Besucherinnen mit weißen Handschuhen ab und eine dritte reicht Feuchttücher. Vor dem kleinen Spiegel wischen sich die Damen die in stundenlanger Mühseligkeit aufgetragene Schminke vom Gesicht und dürfen erst dann den Schrein betreten. Sitzt irgendetwas immer noch nicht richtig, so werden sie von freiwilligen Helfern mit bunten Staubwedeln zur Ordnung gepuschelt.

Schreinfein gemacht steht der Weg ins Heiligtum nun offen. Das riesige Tuch wird dabei mit einer Hand oder mit den Zähnen festgehalten. Ich bin zu ungeschickt dafür. Ständig zupfe und rücke ich das Zelt zurecht, stolpere und hätte mich auch ohne das floral gemusterte Bettlaken als stupide Touristin problemlos selbst entlarvt.

Nur mit Kopftuch und einer feschen Sonnenbrille kann ich mich zwar mit viel Phantasie wie ein Filmstar im Cabrio fühlen. Aber eingewickelt in diesen Tschador sehe ich aus wie eine geblümte Ente unter schwarzen Krähen. Und obwohl ich es als freigeborene Europäerin verurteile, wenn jemand zur Verschleierung gezwungen wird, so bin ich doch gleichermaßen fasziniert. Was Religion doch vermag! Warum machen Menschen sowas? Warum hoffen sie auf eine göttliche Liebe, die sie vielleicht niemals erlangen? Warum glauben sie an eine Hypothese?

Ich bin abtrünnig, nie trünnig gewesen. Für mich gibt es keinen Gott. Und auch keine Geister, Kobolde oder Einhörner. Jeder mag daran glauben, aber Religion sollte Privatsache sein und sich nicht in staatliche Gefüge einmischen.

Darf ich solche säkularen Themen im Iran ansprechen? Hier im Schrein ist vielleicht nicht der beste Augenblick dafür.

Nach dem unsäglichen Mahmud Ahmadinedschad scheint sich der Iran unter dem neuen Präsidenten Hassan Rohani zu öffnen und moderater zu werden. Ich schreibe ganz bewusst „scheint“, denn noch immer unterstehen politische und gesellschaftliche Entscheidungen der Scharia und der Zustimmung des religiösen Führers Ajatollah Ali Khamenei.

Die schiitischen Ajatollahs lenken den Staat. Wieviel Macht der Präsident wirklich hat, bleibt fraglich. Seit der Islamischen Revolution 1979 und Ajatollah Khomenei ist der Iran eine Theokratie. Verschleierung und Verbote bestimmen den Alltag. Eine Diktatur Gottes, in der einzig seine Offenbarung Wahrheit und Gesetz bildet.

Die Sittenpolizei überprüft zuweilen immer noch den Sitz des Schleiers. Facebook ist verboten. Alkohol ist verboten, unverheiratete Pärchen sind verboten. Wer sich nicht daran hält, bekommt Peitschenhiebe. Ungläubigen und Homosexuellen droht gar die Todesstrafe.

Hinter den verschlossenen Türen lebt allerdings eine andere Gesellschaft. Da wird heimlich der selbst gebrannte Schnaps getrunken und über die Regierung gelästert. Und jeder hat einen Facebook-Account. Angeblich sogar der oberste Sittenwächter Khamenei persönlich.

Die Frage bleibt jedoch, was wäre ohne die konservative Revolution geschehen? Was wäre aus dem Iran und seinem Shah geworden? Hätten sich andere Nationen auf die reichen Ölvorkommen gestürzt und das Land ebenfalls zum Schlachtfeld gemacht? Was ist gut und was ist böse? Wo endet die Unabhängigkeit und wo beginnt die Unterdrückung?

Das sind die Bruchstellen, die Risse, die Knäckse. Der Iran ist nicht glatt. Nicht kugelrund gelutscht. Der Iran ist widersprüchlich. Selbst wenn das Regime von der Bevölkerung geduldet wird; die Sehnsucht nach Freiheit brodelt wie heißes Wasser in einem Kochtopf. Jeder macht alles. Nur darüber wird eben nicht gesprochen. Und die Obrigkeit duldet es bis zu einem gewissen Grad, um dann wiederum mit voller Härte durchzugreifen.

Ich erinnere mich an die kopftuchlosen, alkoholgetränkten, durchtanzten Nächte.

Ich war dabei. Habe sie gesehen und mitgemacht. Männer tanzten mit Frauen, Frauen tanzten mit Männern. Diese geschmeidigen Körperbewegungen der Perser zu gellender Musik. Berührungen zwischen den Unverheirateten. Wodka und Haschisch.

„Hello, my name is Elaheh. I’m your guide. Welcome to Shiraz.” Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Ein adrettes Gesicht umrahmt von schwarzem Stoff lächelt mich an. Ich lächele zurück. Im perfekten Englisch führt mich Fremdenführerin Elaheh herum. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich vergessen hatte, den roten Nagellack von meinen Zehen und Fingern zu entfernen. Zu spät. Ich kann nur auf göttliche Großzügigkeit hoffen. Mich puschelt zumindest niemand.

Der Schrein ist prachtvoll und gut besucht und einer der wichtigsten Wahlfahrtsorte des schiitischen Islam. Beeindruckend und verschwenderisch glitzert er in der Mittagssonne. Mullahs mit ihren Turbanen und den weiten Gewändern flanieren umher. Schwarz gekleidete Frauen drängeln sich durch den Eingang, um zu beten. Tausende und Abertausende Spiegel- und Kachelmosaiken verzieren die Kuppel und die Innenwände. Immerhin schafft Religion großartige Architektur.

Nach der Führung werde ich freundlich ins International Affairs Büro zwischen andere geblümte Bettlaken gesetzt. Zwei Holländer und drei Franzosen.

Zu Chai und süßem Gebäck überreicht mir Elaheh einen in Deutsch verfassten Flyer des obersten Führers Khamenei, der sich darin an die „Jugend in den westlichen Ländern“ wendet. Sie verabschiedet sich. In dem Schreiben wird der Westen für den islamischen Terrorismus und jedwede Gewalt verantwortlich gemacht. Die einfache Botschaft: Religion ist gut, die westliche Maßlosigkeit ist böse.
Ach, wäre die Welt doch so simpel, Herr Khamenei. ‚Differenzierung statt Propaganda‘ möchte man ihm zurufen. Doch die Realität weicht der fanatischen Weltsicht. Und da ist es ganz gleich, ob es sich um Islam, Christentum oder eine andere Ideologie handelt. Verblendung ist universell.

Der letzte Abend in Shiraz. Der letzte Abend mit Kourosh. Gleich muss ich zum Bahnhof, den Nachtbus erwischen. Wir essen Fladenbrot und unterhalten uns. Ich habe ihm ebenfalls einen Flyer von Khamenei mitgebracht. Mein Abschiedsgeschenk.

Es zieht mich weiter gen Westen, Richtung irakische Grenze. Nach, Ahwaz, Susa und dann nach Kermanshah. Touristen werde ich dort kaum noch antreffen. In mir steigt die Nervosität. Komme ich durch?

Alleine? Als Frau? Ich hoffe.

Die Iraner sind bisher sehr liebenswürdig und hilfsbereit. Auch wenn ich häufig neugierig angestarrt werde. Doch wirklich alleine war ich nie. Immer sprach mich jemand an. Woher ich käme, wie mir der Iran gefalle und warum ich ohne Ehemann, Vater oder Bruder reise. Nein, alleine war ich nicht. Einsam vielleicht.

Ich betrachte Kourosh und lasse mich einfangen. Sein Gesicht ist schön, es erzählt Geschichten. Er bemerkt meine Blicke. Ich schaue weg. „Okay, take your stuff. I drive you to the bus terminal.“ sagt er und lächelt verlegen. Mein Herz wird schwer.

Kourosh fährt mich zum Busbahnhof. Er scheint traurig über meine Abreise, lässt es sich aber nicht anmerken. Ich bin auch traurig. Ob wir uns wiedersehen?

Ich mag ihn. Ein wenig zu viel vielleicht.

Er trägt meinen Rucksack und begleitet mich zum Bussteig. Abschied. Nur ein kurzer Händedruck. Mehr ist in der Öffentlichkeit nicht erlaubt. Er geht und ich schaue ihm nach bis er verschwunden ist. Mein Herz ist schwer.

Im Bus flimmert auf dem Fernseher ein iranischer Spielfilm. Ich sehe ihn mittlerweile zum dritten Mal. Drei Mal unfreiwillig.

Nach Stunden schläft alles, nur ich bin wach und schaue durch das Fenster ins Dunkel. Schatten ziehen über die einsame Landschaft, die sich in Schwarz hüllt. Als hätte sie ebenfalls einen Tschador übergestreift.

Am nächsten Tag brennt die Sonne zügellos auf eine stickige Busstation nur wenige Kilometer vom Irak entfernt.

Nun sitze ich hier. Es ist brüllend heiß. Blicke verfolgen mich. Männer schauen verstohlen, umkreisen mich wie ein verletztes Tier. Ich bin immer noch die einzig allein reisende Frau weit und breit. Ich fühle die Einsamkeit. Hierhin verirrt sich kein Tourist. Hierhin will auch keiner. Niemand versteht meine Sprache, ich verstehe niemanden. Unter meinem Kopftuch sammelt sich der Schweiß.
Ich bin müde. Reisemüde. Aber mein Herz ist voll. Randvoll mit Augenblicken. Mit Gesichtern und Musik, mit Düften und bunten Gewürzen, mit Sonne und Himmel. Mit Wüsten und Geschichten. Ein ganzer wuseliger Bazar an Gefühlen, Erinnerungen, Freundlichkeit und Menschen.

Ich erinnere mich an den Taxifahrer in Teheran, der mich aufgrund einer Straßensperrung einen Kilometer zu Fuß brachte. Die alte Frau, die mich durch die halbe Stadt zu einer Sehenswürdigkeit führte und dadurch wie selbstverständlich ihren Bus verpasste. Der Mann, der mich einfach auf dem Motorrad mitnahm und zum Ziel fuhr. Die Frau, die mit zehn Taxifahrern den besten Tarif für mich aushandelte. Der Büroangestellte, der mich in seiner kurzen Mittagspause zu meinem Hotel zurück kutschierte, weil ich verwirrt war. Der Hotel Portier, der jedem erzählte, ich sei seine Schwester und somit die günstigsten Preise für mich raushaute. Die vielen Menschen, die mir Süßigkeiten und Tee boten. Einfach so.

Und alle, die schlicht freundlich zu einer Ausländerin waren und meine Reise auf der angeblichen Achse des Bösen so besonders machten. Mein Herz ist voll mit Persien.
Und da klingelt plötzlich mein Handy. Ich schaue auf das Display. Es ist Kourosh.

Ich lächele und stecke es zurück in meine Tasche. Alles hat jetzt Zeit. Hier an dieser stickigen Busstation im Nirgendwo. Denn ich habe sie gefunden. Die Schönheit. Sie ist in den Menschen.
Jemand ruft laut „Kermanshah“.

Ich schultere meinen Rucksack und gehe.
Die Einsamkeit nehme ich mit.
Aber randvoll ist mein Herz.

 

* * *

 
Nadine-Teheran
 
Nadine Pungs ist eine Reisefiebrige, eine Weltenbummlerin. Seit vielen Jahren schon zieht es die studierte Literaturwissenschaftlerin hinaus. Immer weltwärts auf der Suche nach Abenteuer, Intensität und Hingabe. Wenn sie nicht vagabundiert, so steht Nadine Pungs seit mehr als zwölf Jahren als Kleinkünstlerin auf der Bühne und verdient damit ihren Lebensunterhalt. Den sie allerdings vollständig und hoffnungslos für ihre Reisen auf den Kopf haut. Ihre Geschichten bloggt sie dann auf trackqueen.de

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Von Rainer Feichter

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Die Shortlist

Reisereportage-Wettbewerb 2016

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200 Einsendungen – wow! Vielen Dank allen Teilnehmern für all die großartigen Geschichten aus der ganzen Welt! Sieben haben es auf die Shortlist geschafft – und werden hier veröffentlicht, während die Jury über den Sieger berät.

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Leserpost

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  • Dimi on 16. November 2016

    Wahnsinn, was für ein wundervoller Beitrag! Vielen Dank, Nadine, für das Teilen dieser tollen Erfahrung!

  • Martin on 28. Februar 2017

    Wow! Ein wunderbar geschriebener Bericht, der mich unmittelbar und sehr direkt eineinhalb Jahre zurückversetzt, als ich mit dem Motorrad den Iran durchquerte. Vieles, das du beschreibst, kommt mir sehr bekannt vor. Welch wunderbares Land, welch wunderbare Menschen.
    Danke für diese Erzählung!

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