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The Travel Episodes

Bild Skand

Der Regen begann am frühen Nachmittag. Ein Wolkengeschwader, düster und alles verdunkelnd, näherte sich von Osten und brachte starke Windböen mit sich. Die Ausläufer am Ufer wirbelten grauen Sand auf, der sich kalkig und schuppig auf den Baumstümpfen ablagerte.

Diese Region Finnlands war berühmt für die zahllosen Süßwasserseen, ihre Birken- und Kiefernwälder, ihre Tankstellen und die begnadeten Hände ihrer Holzschnitzer. Hier hatte ich eine Holzhütte gemietet, um die vielen Kilometer, die ich seit Helsinki heruntergeschaufelt hatte, aus den müden Beinen zu schütteln. Mir standen ein Etagenbett, ein kleiner Wohnraum mit einem Tisch, einem niedrigen Sofa, einem aus Eichenholz gefertigten Schaukelstuhl und ein Holzverschlag mit der obligatorischen Sauna zur Verfügung. Vor der Sauna wollte ich gern schwimmen. Doch nun machte mir das Wetter einen Strich durch die Rechnung und ich musste mein Bad im klaren Wasser abblasen. Anstatt Abkühlung also Lesen. Wie meine eigene Prophezeiung des Rentenalters genoss ich den Schaukelstuhl und einen Krimi von Mankell, Wallander. Die nordische Stimmung im Buch passte zu meinem Umfeld, und auch nicht. Hier an diesen Seen schien nichts weiter entfernt als die skrupellosen und rational ausgeführten Morde aus diesem Krimi in meinen Händen.

Der Mann mit dem Schnauzbart und dem gelockten Haar hatte mich einige Stunden zuvor auf einem Quad empfangen, mit dem er über den sandigen Weg zwischen den Fichten herangebrettert war. Er grüßte kurz, fragte weder, woher ich komme, noch, wie lange ich zu bleiben gedächte, sondern kramte einfach den Schlüssel zu meiner Hütte unter einem Stein hervor und überreichte ihn mir. Daraufhin zeigte er mir, wo der Container mit den Duschen und Toiletten stand, wie ich die Sauna in Gang setzen könne – sofern ich wollte – und begann bereits, zurück zu seinem Quad zu schreiten, als ich ihn fragte:
„Warten Sie kurz.“
„Was kann ich für Sie tun?“ Nicht unfreundlich, lediglich sehr zurückhaltend.
„Gibt es eine Möglichkeit, mit einem Boot auf den See hinauszupaddeln?“
„Nein, ein Boot haben wir für die Gäste nicht. Es gab mal eines – so ein bauchiges Ruderboot – doch dann kam es zu einem Unfall.“

Ich schwieg und sah ihm direkt in die blauen Augen, um ihm zu bedeuten, fortzufahren.

„Nun, um es kurz zu machen: Ein betrunkener Vater. Ein kleines Mädchen. Sie ertrank, wissen Sie.“

Damit war seine Erklärung zu Ende und er machte auch nicht den Eindruck, immer noch unter dem Vorfall zu leiden. Er wirkte weder betrübt, noch traurig oder wütend; er war weiterhin einfach nur da, und wirkte auf mich so ausgeglichen und in sich ruhend, wie es für einen Mann möglich war.
Um einen anderen Weg auf das Wasser zu finden fuhr ich fort: „Aber es gibt doch guten Fisch in diesen Gewässern? Auf meinem Weg hierher bin ich überall Anglern begegnet.“
„Oh ja, Fische gibt es reichlich.“ Dieses Thema ließ zum ersten Mal so etwas wie Leben in seine Mimik fließen. „Vor allem der Zander beißt gut diesen Sommer.“
„Sehr schön. Was gibt es noch?“
„Reichlich. Barsche, Seeforellen und mit etwas Glück fangen wir einen Hecht. Aber die meisten Hechte finden Sie weiter südlich. Hier sind es mehr Zander.“

Davon hatte ich gelesen. Die Zandersaison beginnt alljährlich nach der Eiablage im Juni, wenn sich die Tiere gierig auf die Jigs der Wurfangler stürzen. Ende Juni folgt dann die beuteträchtige Zeit des Schleppangelns, in der man die kapitalsten Fische an Land ziehen kann. In der Morgen- und Abenddämmerung im Juli durchpflügen übereifrige Schleppangler das Wasser von der Oberfläche in bis zu zehn Metern Tiefe. Die hiesige Zandersaison erstreckt sich bis in den späten August, sofern das Wetter mitspielt. Dieses Jahr sind waren die ersten beiden Augustwochen überdurchschnittlich warm.

„>>Das klingt doch vielversprechend.“ Ich beschloss, nicht länger um den heißen Brei zu reden. „Sie sagten eben, Sie fahren auf diesen See raus?“
„Allerdings. Früh morgens, kurz vor Sonnenaufgang.“
„Morgen auch?“
„Wenn das Wetter mitspielt. Es wird heute noch ein Gewitter aufziehen.“
„Dürfte ich Sie begleiten?“
Ich war beileibe kein Angler, aber nach den ersten Tagen meiner Reise, die ich komplett allein verbracht hatte, brannte ich darauf, ein wenig Zeit mit den Einheimischen zu verbringen. So zurückhaltend, wie der Mann mir begegnet war, rechnete ich mit einer höflichen, aber bestimmten Absage. Stattdessen kratzte er sich lediglich kurz den Schnauzbart und sagte langsam: „Sicher, warum nicht. Wir sind immer zu dritt, fahren mit drei Booten hinaus. Ist es Ihnen auch nicht zu früh?“
„Nein, ganz und gar nicht. Mich fasziniert die helle Nacht, die Sie hier oben haben.“
„Ist gut. Ich werde Sie morgen früh wecken, sofern es nicht regnet.“

Das war ein Wort. Und nun schüttete es also wie aus Eimern, ich blätterte resigniert in meinem Krimi und mit einem Blick nach draußen schien kein Gedanke absurder, als am kommenden Morgen auf diesen See zum Fischen hinaus zu rudern.

Die Zeit war eindeutig reif für ein wenig Gesellschaft.

Seit fünf Tagen reiste ich durch Finnland, allein in einem knallroten Toyota Yaris mit Hybrid-Antrieb. Der Landeanflug mit Finnair in der Abendsonne Helsinkis hätte nicht malerischer sein können, goldrot glänzte die Hauptstadt am Wasser und hinter der Stadt erspähte ich die ersten klaren Seen zwischen den dicken Klecksen Nadelwald, die der große Manitu dereinst mit großzügigem Pinselstrich in dunklen Grünstufen hier und da weiträumig verteilt hatte. Ach, der Norden. Der Wind kommt von weither, weht nicht selten über die freien Ebenen Sibiriens direkt bis hierher, und das spürt man auch. Dies war genau, was ich gesucht hatte.
 
 

 
 
Zudem schien mir Finnland auf Anhieb perfekt geschaffen für einen Roadtrip. Gute Straßen, urige, bunt gestrichene Holzhäuser am Wegesrand und diese Tankstellen der finnischen Landschaft, die im Laufe der Jahrzehnte eine Institution geworden waren. So dienen sie der gesamten Umgebung als eine Form von Gemeindehaus, als Bar, Bäckerei, Poststelle, Restaurant und insbesondere als ein Ort, wo man sich den nächsten Kaffee genehmigen konnte. Finnen weisen weltweit den höchsten Kaffeekonsum pro Kopf auf – und das bekam ich gleich am ersten Tag zu spüren. Keine Raststätte, kein winziger Ort, kein noch so kleiner Verkaufsladen ohne gut gefüllte Kaffeekannen mit pechschwarzem Filterkaffee. Die ersten zwei Stunden durchfuhr ich strömenden Regen und begann bereits, an der Wahl meines Reiseziels zu zweifeln. Die Autobahn war perfekt ausgebaut, alles sehr hochwertig und modern. Nirgendwo in Finnland durfte man schneller als einhundert Stundenkilometer fahren. Kein Grund zur Klage, ich hatte keine Eile. Schließlich klarte es auf und die Sonne stand hoch am Himmel. Nachmittags erreichte ich die Region Karelia im Osten des Landes. Das seenreichste Gebiet Europas. Es war großartig. Zwischen den zahlreichen dunklen Tannenwäldern, die sich mit silbrig schimmernden Birken abwechselten, spähten immer häufiger herrliche, in allen denkbaren Blautönen glänzende Seen hindurch. Ich brauchte bloß links oder rechts abzubiegen, der Straße oder der Schotterpiste zu folgen, und schon gelangte ich an den nächsten klaren See. Vielerorts besaßen sie einen Holzsteg, von dem aus man bequem mithilfe einer Leiter ins Wasser gelangte. Oder man sprang.

In meinem eigenen Tempo bewegte ich mich mehr und mehr nach Norden. Am dritten Tag aß ich zu Mittag in einer Raststätte herrliche geräucherte Forelle mit Kartoffeln und der volle Geschmack des Fisches machte mich durstig. Das finnische Bier war kein Grund, hierher umzusiedeln, aber einige Sorten waren ganz in Ordnung. So genehmigte ich mir zwei Dosen des seltsam betitelten „Le coq“ und ließ mir vor meiner Weiterfahrt ein Stück Johannisbeerkuchen schmecken, für den dieser Landstreifen scheinbar berühmt war. Weil ich mir nach der vielen Fahrerei unbedingt die Beine vertreten wollte, hielt ich am Nachmittag an einem Nationalpark namens Oulanka an und trottete einfach mal los. Mein Weg führte mich zunächst viele Kilometer bergab, vorbei an dunkelgrünen Böden aus Moos und Flechten, dann an einem Canyon entlang, der durch das über Jahrtausende währende Fließen des Oulankajoki Flusses gegraben worden war, und schließlich in höher gelegene Regionen des Nadelwaldes, in denen seit vielen Jahren wieder Braunbären lebten. Tatsächlich fanden sich unweit meines Weges Kratzspuren von Bären an der Rinde einer Schwarz-Kiefer. Für einen kurzen Moment kam mir in den Sinn, dass ich nun im Umkreis von vielen Kilometern hörbar ganz allein unterwegs war und niemand wusste, wo ich war. Also stellte ich mir eine comichafte Begegnung zwischen Bär und Mensch vor, bei der ich mit rudernden Armen hilflos versuchte, den Bären durch das Überreichen einer Dose „Le coq“ zu besänftigen. Doch alles blieb mucksmäuschenstill, nicht einmal Blätterrascheln oder Insekten waren zu hören. Wenn ich stehenblieb und auch meine Schritte kein Geräusch mehr machten, hörte ich nur meinen Atem und sonst gar nichts. Als ob es den Rest der Welt nie gegeben hätte. So sehr ich diese Abgeschiedenheit genoss, so gruselig war es, in einer solchen völligen Stille komplett allein zu gehen. Daher war ich doch froh, als ich nach ein paar Stunden wieder zum Parkplatz zurückkehrte.

All das, die vielen Bilder der ersten Tage meines zurückgelegten Weges, zogen gerade durch meinen Kopf, als ich gemütlich im Schaukelstuhl saß und dem prasselnden Regen lauschte, der auf das Dach meines Holzhauses am See niederging. Sofern es nicht regnet, hatte der stille Mann also als einzigen Grund genannt, der unseren Angelausflug am frühen Morgen verhindern konnte.

Nichts schien mir jetzt gerade unwahrscheinlicher als ein trockener Morgen.

Aber wie das Leben so spielt, wurde ich in der frühen Dämmerung tatsächlich von einem lauten Pochen an der Tür aus meinem Schlaf gerissen. Draußen war es neblig und das erste Licht ließ mitnichten einen hochsommerlichen Tag erahnen – aber zumindest war es trocken und sah auch danach aus, als ob es noch für einige Zeit so bleiben dürfte. Ich zog mich an und schlenderte nach draußen. Am Ufer hörte ich das Gemurmel der drei Männer, die wortkarg und behutsam ihre Trailer in den See steuerten, wo sie dann nach und nach ihre Boote zu Wasser ließen. Der Mann, der mich gestern in die Hütte gelassen hatte, bedeutete mir mit einem Kopfnicken, in seinem Boot Platz zu nehmen. Es konnte losgehen.

Unsere Boote brachen gerade auf, als die Sonne östlich des dichten Waldes langsam ein gleißendes Licht durch den Frühnebel schickte und die Umgebung durch grelle, weiße Strahlen langsam aufweckte. Ich hörte das Geräusch von den Ruderrollen des anderen Bootes ein ganzes Stück entfernt vor mir im Nebel. Die Männer ruderten mit schnellen, abgehackten Schlägen. Auf dem Wasser war es noch ganz kalt. Ich lehnte mich zurück und atmete die kristallklare Luft des Nordens. Es dauerte gut und gerne eine halbe Stunde, bis wir im nördlichen Zentrum dieser Seenplatte angelangt waren und die Männer sich daran machten, ihre Angeln zu positionieren. Diese drei schweigsamen Burschen wussten genau, an welcher Position sie die ertragreichsten Fischschwärme ausmachen konnten – so viel stand fest. Bereits nach weniger als einer Minute zog der Jüngste von ihnen eine Forelle ins Boot. Sie war nicht allzu groß, aber glänzte herrlich im zunehmenden Morgenlicht und nachdem der Mann sie in einen der bereitgestellten, mit Seewasser gefüllten Eimer geschmissen hatte, begann sie, panisch gegen die Eimerwand zu schwimmen. Schließlich ergab sie sich ihrem Schicksal und verharrte ruhig am Boden der letzten Behausung ihres Lebens.

Wir blieben etwa zwei Stunden an Ort und Stelle. In dieser Zeit wechselten die Männer weniger als fünf Sätze miteinander und ich begriff, dass dieses Schweigen für sie absolut natürlich war und in vollkommenem Einverständnis einen Teil der hiesigen Kommunikation ausmachte. Dieser Teil Europas bekam von November bis März kaum Tageslicht zu sehen und es ließ sich nicht von der Hand weisen, dass die Region und ihre Einwohner von einer tiefliegenden Melancholie durchströmt wurden, die aber – jedenfalls in meinen Augen – nie in bloße Depression zu kippen drohte. Vielmehr war dieses Schweigen eine Form der Anpassung, sowohl an die Klarheit und die Weite der Natur als auch an die sich abwechselnden Phasen dauernden Lichts und dann wieder andauernder, schwärzester Dunkelheit. Und außerdem schien mir im einträglichen Schweigen dieser drei Männer auch eine Form von Genuss zu liegen, ein Bewusstsein für die Momente, in denen Worte bloß stören konnten. Finnen lieben ihre Natur, aber da sie eben nur in den wenigen Sommermonaten überhaupt etwas von ihr haben, kosten sie diese Wochen der endlosen Tage voll aus, verbringen die meiste Zeit an oder auf den Seen, in den schattigen Wäldern oder auf den an die Tundra grenzenden Wanderrouten Lapplands.

Was musste noch viel geredet werden? Die Stille dieses Morgens, nur unterbrochen von einzelnen Ruderschlägen und dem Platschen der anbeißenden Fische, wenn sie an Bord gezogen und in die Eimer geworfen wurden, war alles, was man an Geräuschkulisse brauchte. Als sie mich später an meiner Hütte absetzten, bedankte ich mich bei ihnen und unsere paar Worte zum Abschied waren herzlich und warm. Ihr Schweigen war demnach keine Scheu, keine zu Tage tretende Unfreundlichkeit, sondern eher ein Aspekt der hiesigen Lebensverhältnisse.

Noch am selben Tag begab ich mich erneut weiter Richtung Norden, passierte hinter Puolanka ein erstes Verkehrsschild, das mich offiziell in Lappland begrüßte, fuhr meine Fensterscheiben ganz nach unten und summte zufrieden vor mich hin. Die Wochen vor meiner Abreise waren durch viel Büroarbeit, monotone Tage und ein wachsendes Gefühl von Beklemmung geprägt gewesen, welches mir in den letzten Tagen tatsächlich die Kehle zuzuschnüren drohte. Nichts von dem war jetzt wichtig. Der Fahrtwind blies es mir aus dem Kopf. Selbst mitten zur Hauptreisezeit im August war nie viel Verkehr, so dass ich das schimmernde Band des Asphalts ganz für mich zu haben schien, wie es sich im prächtigen Sommerlicht zwischen Wäldern, kleinen Dörfern und den blauen Seen hindurch zu schlängeln schien.

Nach all den Schildern, die mich vor Rentieren warnten, kam die erste Begegnung trotz allem überraschend. Eine graue, träge Masse bewegte sich dort rechts von der Straße, bereits von weitem zu sehen. Ganz sachte bremste ich das Fahrzeug ab. Dort spazierte es also: das erste Rentier, das mich offiziell in Lappland willkommen hieß. Erstaunlich groß war es, hatte dafür aber ein verhältnismäßig bescheidenes Geweih und beobachtete mich aufmerksam. Neben der gräulichen Farbe mit einigen an Kuhfell erinnernden Flecken fiel mir vor allem die breite, schwarze Schlaufe um den Hals auf. Auch hier oben hatten sich die Zeiten geändert, inzwischen verfolgten die Sami – die indigenen Einwohner Lapplands – ihre Herden fast ausnahmslos über GPS und modernste Navigationssysteme. Der Vorteil dieser Methode galoppierte mir geradewegs vor die Nase, denn dank dieser Technik konnten sich die Tiere ganz frei über viele Hektar große Gebiete bewegen, wobei aber jedes riesige Stück Land an seinen Rändern durch komplexe, kilometerlange Zaunsysteme begrenzt wird. Mit dieser Form von Gehege hatte ich nicht gerechnet, aber durch die enormen Ausmaße der einzelnen Teilstücke fielen die Zäune selten auf. Von Zeit zu Zeit passierte ich Grenzübergänge, an denen die Straße die Zäune direkt passierte und an welchen sich die einzelnen Samiclans orientierten. Am merkwürdigsten schien mir bei all dem, wie angstfrei sich viele der Rentiere in Straßennähe aufhielten. Nur eine halbe Stunde nach meiner ersten Begegnung galoppierte eine Gruppe von drei Tieren mitten auf der Straße und ließ sich von dem entgegenkommenden, zaghaft bremsenden Lastwagen ebenso wenig stören wie von der Lichthupe meines Vordermanns.

Mein Budget war durch die Mietkosten für das Auto und die noch zu erwartenden Spritkosten etwas in Mitleidenschaft gezogen, so dass ich mich entschied, ein paar Nächte im Auto zu schlafen. Bislang hatte ich hier oben noch keine Nacht ohne Schlaf verbracht und so wusste ich noch nicht, dass der August nördlich des Polarkreises eine enervierende Art besitzt, jemanden wachzuhalten. Irgendwo zwischen Kuusamo und Kemijärvi war ich auf meiner Suche nach einem sichtgeschützten Fleckchen für mich und den roten Toyota fündig geworden. Unweit der Straße verlief unterhalb der Strommasten ein Versorgungsweg, der von Büschen und niedrigen Bäumen geradezu zum Halt einlud. Dort stellte ich den Wagen ab, putzte mir die Zähne und pinkelte inmitten eines Mückenschwarms in die Sträucher. Dann versuchte ich es mir in meinem Schlafsack auf dem zurückgekurbelten Beifahrersitz bequem zu machen, was nicht ganz einfach war. Genau vor mir ging indes die Sonne langsam unter und ich dämmerte allmählich in einen unruhigen, stets an der Oberfläche meines Bewusstseins verweilenden Schlaf. Mit einem Ruck erwachte ich und spürte die Verspannung im Rücken, in meinen Beinen, im Nacken. Merkwürdig, ich hätte schwören können, mindestens eine Stunde weggewesen zu sein. Aber es war noch immer hell, es schien mir wie der letzte Moment der Abenddämmerung. Ich blickte auf die Uhr. Kurz nach halb eins. Ich hatte fast zwei Stunden geschlafen, doch die Sonne hier oben weigerte sich vehement, unterzugehen. Sie stand knapp unterhalb der Horizontlinie und war inzwischen fast genau im Norden angekommen. Erst jetzt begriff ich, dass mir die Helligkeit für die gesamte Nacht sprichwörtlich nicht von der Seite weichen sollte. Zu meiner Rechten blieb der Lichtschimmer stets deutlich sichtbar. Mir wurde kalt und ich versuchte – so gut es eben ging – in meinem Schlafsack Wärme und Ruhe wiederzufinden. Doch je mehr ich es mit Entspannung probierte, desto mehr verspannte sich mein Körper und desto wacher wurde ich. So hörte ich leise Musik, schloss immer wieder die Augen, nur um sie erneut fasziniert zu öffnen und den Lichtschimmer zu beobachten, der schrittweise von Norden in Richtung Osten wanderte – gleichsam eines alten Mannes, der einen gemütlichen Spaziergang unternimmt. Stunden später hielt ich die Kälte nicht länger aus, hüpfte also draußen auf dem Versorgungsweg auf und ab, um die Kälte aus den Gliedern zu vertreiben und ein wenig wacher zu werden, und fuhr um kurz nach vier ein Stückchen weiter die Landstraße entlang, immer nach Norden. Einige Kilometer entfernt bog ich auf gut Glück rechts in einen Waldweg ab, einfach aus Neugier auf das, was sich dort durch den dichten Morgennebel abzeichnete. Und es war Glück, meiner Neugier nachzugeben. Dort lag – unter einer sich mehr und mehr auflösenden Nebeldecke – ein idyllischer, wie von Caspar David Friedrich gemalter See, in dem sich die aufgehende Sonne spiegelte und die Welt in zwei reine, kalte Spiegel teilte. Schließlich erstrahlte die Sonne in einem klaren Rotgold die Wasseroberfläche, die Insel inmitten des Sees und die Tannenwälder rundum, der Nebel trieb, gleichsam wie von einem Kind über eine Modelllandschaft gepustet, sanft zur Seite und meine Müdigkeit und die Schmerzen einer unbequemen Nacht waren vergessen. Ich kann es nicht anders beschreiben, doch dies war der eine Sonnenaufgang, an dem sich für mich alle weiteren würden messen müssen. Sie würden ihn nicht erreichen.

Die Reise – egal, ob innerlich oder äußerlich – hat keinen Sinn, wenn das Verhalten, das man vor der Abreise hatte, nicht permanent auf den Kopf gestellt wird. Man reist nicht, um seine Bequemlichkeit mitzunehmen. Was zählt, ist der Übergang. Mit meiner fortlaufenden Bewegung nordwärts veränderte sich nicht bloß die Landschaft rund um mich, sondern auch in meinem Inneren wurde alles klarer, übersichtlicher und – was mir erst einige Zeit nach meiner Rückkehr bewusst werden sollte – reiner. All dieses klare Wasser, die kalte, nordische Luft und die weiten Abschnitte der Straße, während sich der Asphaltstreifen am Horizont im unsichtbaren Zentrum verlor, vertrieben nach und nach die Enge und Lethargie, die mich in den vorherigen Wochen in meinen Arbeitssessel gepresst hatten.
Wenn man Lappland Stück für Stück von Süden nach Norden durchquert, kann man allmählich die zaghafte Veränderung der Natur nachvollziehen. Im Laufe dieses Tages wurden die Wälder immer dichter, die Böden feuchter. Moose und dicht an die Straße heranwachsende Flechten wurden sichtbar, und von Zeit zu Zeit sorgten Rentiere für Abwechslung. Einmal galoppierte eine ganze Familie mit zwei Jungtieren den Begrenzungsstreifen zwischen Asphalt und Waldrand entlang, wobei sie sich rhythmisch nahezu perfekt dem Beatles-Song anpassten, den ich im Autoradio hörte. Als ich am frühen Nachmittag die im Norden Lapplands gelegene Stadt Ivalo erreichte, begegnete mir zuerst ein Jugendlicher auf einem Moped. Sein T-Shirt zierte die Aufschrift „Alaska. The last frontier.“ Nach der anstrengenden Nacht im Wagen war es Zeit für ein wenig Erholung, also nahm ich mir ein Zimmer im Hotel Ivalo. Die Stadt war von einer Atmosphäre der Abgeschiedenheit durchwoben, hier hörte das (ohnehin nur in wenigen Teilen) bewohnte Lappland auf und ging in das noch leerere, von den Sami dominierte Ende Nordeuropas über. Ein Verkehrsschild an der Hauptkreuzung wies nach Osten: „Murmansk 303 km“.

Fürwahr, dies war eindeutig Europas „last frontier“.

Leider fiel am Sonntagmorgen ein dichter, alles bedeckender Regen und ein Blick auf die geschlossene Wolkendecke machte nicht unbedingt Mut, was einen Wetterumschwung ins Freundliche betraf. Und doch siegte der Reiz der Barentssee über die Bequemlichkeit meines gemütlichen Hotelbetts. So kaufte ich also in Ivalo ein wenig Proviant für die Fahrt, wobei ich zufällig auf eine riesige Auswahl an kleinen, mobilen Saunaöfen stieß, die hier ab fünfhundert Euro aufwärts im Supermarkt für willige Wärmesuchende angeboten wurden. Andere Länder, andere Absatzmärkte. Dann tankte ich abermals ganz voll – meine Benzinkosten hatten längst sämtliche Kalkulationen gesprengt – und schließlich fuhr ich stundenlang weiter und immer weiter, erst geradewegs nach Norden, dann nach Nordosten. Die Landschaft wurde noch rauer. Wilde Flüsse mit Stromschnellen, vom Wind zerzauste Nadelbäume, ein Rentier mit dem größten Geweih, das mir hier oben zu Gesicht kam und eine immer schlechter, ungemütlicher werdende Straße. Zur Mittagszeit passierte ich die Grenze zu Norwegen. Kurz darauf gelangte ich an einen Wasserfall, über den sich bei Fessbukta eine Brücke streckte. Hier bog ich auf die norwegische E6 ab und folgte dem Straßenverlauf durch eine Landschaft, die kaum noch etwas mit dem waldgesäumten Teil Lapplands gemein hatte, den ich aus den letzten Tagen kannte. Hier fuhr ich durch niedrige, mit Gräsern und Moosen bewachsene Hügel, dann folgten höhere, steinige Berge. Bilder des schottischen Hochlands fielen mir als einziger Vergleich ein. Inzwischen war aus dem Starkregen ein leichtes, kaltes Nieseln geworden. Nun war das Ziel nicht mehr weit, noch etwa vierzig Kilometer nach Westen und dann scharf abknickend an einem Fjord vorbei nach Norden.

Das Wasser der Barentssee lag in einem leichten Blau vor mir, von einem hellen Grau gesprenkelt und eindeutig eiskalt. Am Ende dieser Straße lag der kleine Außenposten Bugøynes. Alle Häuser aus Holz verkleidet, Fahrzeuge mit hohen, starken Reifen parkten an der kleinen Kirche. Kaum ein Mensch zu sehen, das Außenthermometer meines Wagens zeigte +11°C. August, früher Nachmittag – viel wärmer würde es nicht werden. Die wenigen Gebäude mit ihrer auf Zweckmäßigkeit angelehnten Architektur zeichneten sich klar gegen die markante Umgebung ab, fröhliche Farben, gerade Linien, die Schiffe totenstill im metallenen Wasser des Hafenbeckens, und all das vor dem Hintergrund der stumpfen, enthaupteten Berge der anderen Seite, umgefallene Tiere mit einem Rest Schnee an den Flanken. Weiter würde es für mich nicht gehen, denn hier hörte Europa auf und gab den Weg frei auf den Ozean, der rund um den Nordpol die angrenzenden Länder und den Lebensrhythmus der wenigen Bewohner bereits seit Jahrtausenden bestimmt und geprägt hatte.

Meine lange Reise in den Norden ging zu Ende. Mein Kopf war endlich frei.

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