Am nächsten Tag fahren wir mit dem Pick-up in die Berge zu einer Schule für Flüchtlingskinder, deren Eltern in der Nähe der Grenze auf den Feldern arbeiten. Kleine sonnenverbrannte Leute in schwarzer Tracht, die Frauen mit bunten Frottee-Turbanen. Es sind Palaung aus dem Grenzgebiet zu Burma, die immer noch in Thailand leben. Trotz der politischen Veränderungen in ihrem Heimatland existieren hier immer noch Lager mit hunderttausenden von Flüchtlingen, die aus den Bergvölkern der Region stammen. Eine Stiftung, die dem Kloster nahesteht, finanziert drei Lehrer, die Kinder unterrichten, während die Eltern arbeiten. Die Kinder sind still und aufmerksam und wiederholen die Buchstaben, die der Lehrer mit einem Stock an der Tafel zeigt. Sie tragen T-Shirts mit lustigen Comic-Tieren, doch alles, was sie tun, tun sie mit großem Ernst: Essen, beten, sogar schlafen. Als die Kleinen sich zum Mittagschlaf hinlegen, fahren wir nach Fang zurück.
Die Berge sind voller saftig grüner Orangenbäume in voller Blüte. Ein zarter Duft liegt in der Luft. Ich schließe die Augen und atme tief durch. Es ist wunderschön.

Auf dem Rückweg zeigt Graham uns ein paar andere Tempel der Gegend, von denen es überraschend viele gibt. Einer verfügt über die größte Mönchs-Statue Nord-Thailands, ein riesiger Bronze-Greis, der in Wahrheit aus Plastik besteht, wie ich bei einem Klopftest feststelle, ein zweites Kloster sieht eher aus wie ein Casino, ein drittes hat im Zentrum der Gebetshalle eine Art Pyramide aus Reliquien. Zwei Novizen klettern dazwischen herum und stauben die Glasbehälter mit den heiligen Objekten ab. Die Kutis, kleine Wohn- und Gebetszellen, in die man sich zum Schlafen und zwecks Kontemplation zurückzieht, sind aus Beton gegossenen und haben die Form von Lotus-Knospen.

Was ich am Buddhismus mag, ist die Idee, dass er auch funktioniert, wenn man nicht dran glaubt. Jeder ist selbst für sein Schicksal verantwortlich, nicht das Wohlwollen irgendwelcher Götter. Zumindest behauptet Graham das, der uns am Abend in unserer kleinen Bibliothek bei einem klebrig-süßen thailändischen 3-in-1-Coffeemix an den edlen achtfaltigen Pfad der buddhistischen Lebensweise heranführt. Man muss einfach nur danach leben, der Erfolg stellt sich dann von selbst ein. Die buddhistischen Gebote sind relativ einfach:
1. Keine Lebewesen töten oder verletzen.
2. Nichtgegebenes nicht nehmen.
3. Keine unheilsamen sexuellen Beziehungen pflegen und sich im rechten Umgang mit den Sinnen üben.
4. Nicht lügen oder schlecht reden.
5. Sich nicht durch berauschende Mittel das Bewusstsein trüben.
Brian und CJ planen das volle Programm mit Robe und Mönchsweihe. Dafür müssen sie die Antworten für die Ordinierung lernen und alle möglichen Vorschriften, was Mönchen erlaubt und verboten ist. Dazu gehört in den alten Formeln auch das Verbot, fermentierten Urin zu verkaufen, worüber wir uns köstlich amüsieren. Was macht man mit fermentiertem Urin? Brian vermutet eine bewußtseinserweiternde Wirkung. Also doch, denke ich: Drogen.

Ohne hier jetzt die ganze buddhistische Mythologie erklären zu können: Letztlich geht es darum, dem als „Dukkha“, als Leiden, empfundenem Kreislauf der Wiedergeburten durch gute Taten und bewusstes Handeln zu entkommen und in den ewigen Glückszustand „Nirwana“ einzugehen. Mich persönlich hingegen reizt der Umstand, dass man im Buddhismus als einziger Religion für sich und sein Seelenheil selbst verantwortlich ist. Glück oder Unglück hängen nicht vom Zufall oder dem Wohlwollen allmächtiger Götter ab, sondern liegen ganz und gar in der Hand des Einzelnen. Man kann niemandem die Schuld dafür geben, wenn es nicht klappt in diesem oder im nächsten Leben.
Für die Aufnahme ins Kloster gibt es eine Zeremonie mit Blumen und Räucherstäbchen, die wir dem Abt übergeben, der uns dafür seinen Segen erteilt. Dr. Abhisit ist ganz anders, als man sich buddhistische Mönche schlechthin vorstellt, kein weiser alter Mann, sondern Anfang Vierzig mit erstaunlicher Energie. Er hat ständig etwas vor, empfängt Gläubige, rezitiert alle Andachten persönlich und hat eine sonore Stimme, der man gern zuhört. Wenn er sich einmal räuspert oder eine Pause macht, wird es still im Saal. Wir nennen Dr. Abhisit „Than Ajahn“, ehrwürdiger Lehrer, und man kann überraschend gut mit ihm plaudern, nicht nur über Religiöses.

Nach den ersten Tagen in der weißen Uniform habe ich mich an den Kloster-Alltag gewöhnt und versuche, alles „mindful“ zu tun. „Mindfulness“, also Bewusstheit oder Achtsamkeit ist einer der wichtigsten Begriffe im Buddhismus, wir sollen versuchen alles möglichst bewusst zu machen, und tatsächlich kann man jede noch so langweile Tätigkeit achtsam verrichten. Zähne putzen, atmen oder fegen. Aber das ist schon fast Meditation. Besonders CJ fegt jeden Tag den Hof und hilft den Novizen, die Blätter aufzuhäufen, die jetzt in der Trockenzeit von den Teakbäumen fallen. Er gibt sich Mühe, möglichst achtsam zu fegen, er will es wirklich wissen. So sehr, dass er schon ganz angestrengt wirkt vor lauter Achtsamkeit.
Ich habe es eher mit Massage. Graham hat mir bestätigt, dass man sich „mindful“ massieren lassen kann, wenn man sich dabei auf die Reaktionen des Körpers konzentriert, und ich nutze die Gelegenheit in einem Massagestudio um die Ecke. Eine komplette Thaimassage dauert 2 Stunden, und die Damen kneten jeden Tag die Verspannungen aus meinem Rücken. Tatsächlich ist das Bett das Einzige, was mir wirklich zu schaffen macht. An das frühe Aufstehen und den Abend ohne Essen habe ich mich schnell gewöhnt. Es dauert nicht lange, bis ich anfange, mit der Matratze zu schummeln. Es ist nachts ziemlich kühl und da wir soviel Decken benutzen dürfen, wie wir möchten, gehe ich dazu über, die Decken heimlich unter mich zu legen. Da wärmen sie schließlich auch. Der Klosterkoller, bei dem manche nachts von Pizza fantasieren, ist mir fremd. Wird der Hunger zu groß, dürfen wir eine kleine Sojamilch trinken. Bei anderen Flüssigkeiten ist das nicht immer eindeutig. Frage: „Darf man Orangensaft trinken, oder zählt das als Essen?“ Antwort: „Darfst Du trinken, aber ohne Fruchtfleisch.“

Der Tag der Erleuchtung
Eine Herausforderung ist Makha Bucha, der Tag der Erleuchtung. Hunderte Gläubige aus den umliegenden Dörfern sind mit Wasserflaschen und kleinen Plastikdosen gekommen. Das Umgießen von Wasser in die Dosen – ursprünglich wird es verschüttet, aber das würde dem Parkett im Tempel schaden – soll symbolisch von Zorn, Gier und anderen geistigen Verunreinigungen reinwaschen. Bei der anschließenden Prozession der Mönche kommt leichte Panik in mir auf. Wie soll ich Reis in gleichmäßigen Portionen verteilen, wenn ich gar nicht weiß, wie viele Mönche in der Schlange stehen und alle etwas bekommen müssen? Ich behelfe mich damit, den Klebereis zu Kugeln zu rollen, die immer größer werden, je näher das Ende der Schlange kommt. Der letzte Mönch bekommt einen Batzen, der kaum in seine Schale passt.
Bei einem Ausflug in die Stadt haben wir für CJ und Brian Almosenboxen besorgt und Roben, die aus einem etwa sechs Meter langen Baumwollstreifen bestehen. Es ist vollkommen unmöglich, diese mit korrekter Faltung allein anzulegen, und ja, die Mönche tragen nichts drunter. Für Neulinge gibt es allerdings eine Art Unterkleid, damit sie nicht plötzlich nackt dastehen.
Das Rasieren der Ausländer ist für die Novizen ein großer Spaß, und ich bin überrascht wie schnell es geht. Fünf Minuten und sie sind kahl. CJ lässt alles stoisch über sich ergehen und sieht nachher besser aus als vorher, ein bisschen Bruce Willis. Brian hat panische Angst um seine Augenbrauen. Laut Vertrag sind bei seinem Arbeitgeber, der News-Show in New York, sichtbare Tätowierungen, Piercing und auffällige Frisuren ein Entlassungsgrund.
Die Mönchsweihe nimmt ein hoher Mönch aus dem Nachbarort in einem weißen Glitzertempel vor. Während der Zeremonie drückt er mehrfach Anrufe auf dem Handy weg, stellt das Gerät aber auch nicht aus. Ausländer, die sich zum Mönch auf Zeit weihen lassen, scheinen ihn nicht weiter zu beeindrucken. Zum Abschluss übereicht er den Novizen ihre Roben, mit denen die beiden rückwärts aus dem Tempel stolpern. Beim Anlegen helfen Graham und ein Hilfsmönch. Während Brian ganz authentisch rüberkommt, sieht CJ aus wie im Faltenrock auf dem Weg zu einer Faschingsparty.
„Fat“ konstatiert der Hilfsmönch.
Am nächsten Morgen ist mein kleiner Skorpion verschwunden – gefressen, oder vielleicht hat er sich nur in eine Ritze verkrochen. Auch für uns wird es Ernst, wir sind reif für das „Retreat“, und dort unsere Zuflucht, unser „Dharma“ zu finden.
Zu den Dingen, die Mönche nicht dürfen, weil nicht würdevoll, gehört Radfahren.
Deshalb bringt Graham CJ und Brian mit dem Auto in das „Retreat“, das etwa zehn Minuten entfernt liegt, Tynke und ich fahren mit dem Rad. Etwa zweihundert Meter abseits der Straße liegt ein Teich, in dessen Mitte eine Gebetshalle mit Büroräumen für den Abt steht, ringherum gruppieren sich kleine Betonhütten: die Kutis. Alles ist nagelneu, jede Hütte von einem namentlich genannten Spender, unter anderem von einem Herren aus „Luxamburg“, und wir sind ganz allein. Diesen Luxus haben wir dem Umstand zu verdanken, dass das alte Gästeprogramm gerade ausgelaufen ist und ein neues in dieser Anlage erst im nächsten Monat beginnt. Wir sind quasi die Test-Novizen.
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Leserpost
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Aylin on 5. März 2017
Das war sicher eine spannende Erfahrung, zugegebenermaßen habe ich bereits nach einem Tag Meditation den Ehrgeiz verloren. An nix zu denken ist wirklich schwerer, als man denkt Sehr amüsant geschrieben