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The Travel Episodes

Bild Rumänien

„Geht schon mal vor, ich komme gleich nach“, sagt George und verschwindet in einem winzigen Zimmer, das die Wachleute gleich rechts hinter der Eingangstür des verlassenen Verlagshauses bezogen haben. Langsam, fast zögerlich, gehen wir auf den Durchgang zu, der im Halbdunkel liegt. Dahinter Schemen eines heruntergekommenen Treppenaufgangs. Kaum sind Matthias und ich am Absatz der Treppe angekommen, hat George uns schon auch wieder eingeholt. Wie viel er dem Wachmann gegeben hat, damit er uns das riesige Gebäude mitten im Zentrum Bukarests zeigen kann, verrät er nicht. „Nach oben“, sagt er stattdessen nur, und nimmt, ohne sich noch einmal umzudrehen, die ersten Stufen.

Es ist unser zweiter Tag in Bukarest. Bis vor einer Stunde war George für uns nicht mehr als ein Name in einer E-Mail. Jetzt ist er einen Tag lang unser Führer durch sein ganz persönliches Bukarest. Mit seinen tiefschwarzen, etwas zu langen Haaren, der Lederjacke, seiner dunklen Sonnenbrille und der Zigarette im Mundwinkel sieht er aus wie ein rumänischer Jean-Paul Belmondo. Ein junger Bukarester Filmemacher und Lebenskünstler, der jeden Winkel seiner Stadt kennt. Und doch: Ein Rest Unsicherheit bleibt. Sollen wir wirklich mit einem Fremden den ganzen Tag durch verlassene, halbverfallene Gebäude streifen?

Ein einziger Blick in das riesige Verlagshaus aus dem vorletzten Jahrhundert lässt uns die Frage vergessen. Was die Zeit und sicher auch der eine oder andere Randalierer, aus dem einst ehrwürdigen Gebäude gemacht haben, wirkt seltsam surreal. Glas in den Fenstern gibt es hier fast nirgends mehr. Überall blättert die Farbe von den Wänden. Das Holz der Türrahmen: gesplittert. Trümmer bedecken an vielen Stellen des vierstöckigen, verwinkelten Gebäudes den Boden.

Im ersten Stock stoßen wir auf das, was einst die barockartige Empfangsetage gewesen sein muss. Der Prunk vergangener Zeiten ist hier zwar längst passé, aber er lässt sich noch erahnen: An der Decke üppiger Stuck, an den Wänden erinnern Tafeln an berühmte Mitarbeiter des Hauses, Reste goldener Farbe schälen sich vom Mauerwerk. Unter unseren Füßen knarzt das in die Jahre gekommene Holzparkett. Erstaunlicherweise ist der Boden des Empfangszimmers nur staubig; es hat die letzten Jahrzehnte weit besser überstanden als andere Teile des Gebäudes. Als hätte der Zahn der Zeit gewusst, dass er in diesen Räumen mit ein bisschen mehr Respekt zu Werke gehen muss. Mitten im Zimmer steht einsam ein alter Holztisch.
 
 

 
 
„In Rumänien interessieren sich immer noch recht wenige Menschen dafür, was aus alten Gebäuden wird, wenn sie nicht mehr genutzt werden“, erzählt George und dreht sich dabei die mindestens fünfzehnte Zigarette, seit wir ihn getroffen haben. Bis zur Wende 1989 hatte Diktator Nicolae Ceaușescu viele Villen und die für Bukarest bis dahin typischen Holzhäuser abreißen lassen – um Platz für brutalistische Neubauten zu schaffen. Doch auch nach seinem Sturz wurde Denkmalschutz in Rumänien nicht gerade groß geschrieben: Eine Liste aus dem Jahr 1950, die hunderte Gebäude als denkmalgeschützt aufführt, wurde erst 2001 erweitert – dem Jahr, in dem Rumäniens Regierung endlich ein neues Denkmalschutzgesetz verabschiedete.

„Es ist einfach nur traurig“, meint George, denn noch immer sind in der rumänischen Hauptstadt Bauwerke dem Verfall preisgegeben, die eigentlich für die Nachwelt erhalten werden sollten. „Manche Eigentümer warten nur darauf, dass das Dach einstürzt und die Außenwände am besten gleich mit umkippen.“ Erst, wenn ein Haus irreparabel ist, gibt es vom Staat eine Abrissgenehmigung, die Platz für einen Neubau schafft. Ein perfides System.

„Deswegen gibt es an den meisten verlassenen Orten auch kein Wachpersonal“, sagt George und begräbt seine Zigarette unter dem Stiefelabsatz.

Durch riesige Räume und Treppenhäuser, deren Fensteröffnungen den Blick auf Innenhöfe und immer neue Teile des riesigen Areals freigeben, bewegen wir uns Etage für Etage aufwärts. Mein Zeitgefühl habe ich im Labyrinth der Flure, Zimmer und Treppenhäuser längst verloren. Im obersten Stock angekommen ist klar: Das Ende ist das noch nicht. Bevor ich mit Höhenangst im Nacken protestieren kann, schwingt George sich auch schon beherzt aus dem erstbesten Fenster, hinaus aufs Dach.

Minute um Minute sitze ich einfach nur da, auf dem Fensterbrett in 25 Metern Höhe und lasse die Beine über einem etwa einen Meter breiten Vordach baumeln. Die Aussicht ist schon jetzt ziemlich gut – ich muss nicht extra noch da raus, denke ich. Die Jungs sind derweil schon über das Vordach um die Ecke auf das tennisplatzgroße Dach des Gebäudes links von mir verschwunden. In mir kämpft die Höhenangst mit der Neugier. Ich hasse es, mich überhaupt entscheiden zu müssen. Nur kurz links um die Ecke klettern, rüber aufs andere Dach… Ich versuche, nicht nach unten zu gucken, halte mich am Fensterrahmen fest und schwinge mich kurzentschlossen um die Ecke. Erst als ich das Holzdach nebenan fest unter meinen Füßen spüre, atme ich auf.

Das Panorama, das sich mir bietet, ist beeindruckend: Über uns spannt sich der strahlend blaue Himmel, darunter die Dächer Bukarests bis zum Horizont. Die Sonne kitzelt meine Nase. Wenn mir heute Morgen jemand erzählt hätte, dass ich nachmittags hier oben herumklettern würde, ich hätte ihm vermutlich einen Vogel gezeigt. Würde jemand vom Gebäude gegenüber zu uns hochschauen, wie wir drei mit unseren Handys und Kameras auf dem Dach herumfuchteln, er würde uns vermutlich nicht gerade für Catwoman, Batman und Robin halten.

Das Doofe an Dächern ist: Irgendwann und irgendwie muss man leider wieder runter. Also den gleichen Weg zurück? Der Plan meiner beiden Begleiter, auf das eins tiefer liegende Dach zu springen und von dort über die Fenster zurück ins Gebäude zu klettern, lässt mich schwindeln. Wenn das vorhin Angst war, ergreift mich jetzt mittlere Panik. Ich starre auf das Dach zwei Meter unter mir und muss mich erst mal setzen. Sekündlich schwanke ich zwischen „Ach komm, so hoch ist das gar nicht, das schaffst du“, „Scheiße, ist das hoch“ und „Was, wenn das Holzdach da unten morsch ist?“. George, der wahrscheinlich schon hundert Mal hier oben war, versucht mich zu beruhigen. Meine Hände sind trotzdem schweißnass. Am liebsten würde ich Schwäche zeigen.

Aber es hilft nichts: Ich springe.

Der Boden der Tatsachen ist härter als befürchtet. Irgendwie schaffe ich es, beim Aufkommen erst mit dem Rücken einen herumliegenden Backstein zu treffen, dann nach vorne zu fallen und reichlich unsanft auf meinem linken Knie zu landen. Vielleicht hätte ich die Augen beim Fallen nicht zumachen sollen. Aber dann wäre ich vermutlich nie gesprungen. Ich rappele mich auf und sehe zurück zur Dachkante: Doch höher als gedacht. Manchmal ist es vielleicht ganz gut, wenn man vorher nicht alles weiß.

„Bist du OK?“, fragt George mit besorgtem Blick. Ich verziehe den Mund zu einem schiefen Lächeln. Langsam realisiere ich, dass ich da gerade wirklich von einem Holzdach aufs andere gesprungen bin, ohne wirklich zu wissen, was darunter ist. Und das mitten in Rumänien, in einer verlassenen und langsam verfallenden Industrieruine – das klingt nicht nur ziemlich bescheuert, es tut gerade auch verdammt weh. Aber ein Indianer kennt keinen Schmerz. Ich beiße die Zähne zusammen, ringe mir ein kleinlautes „Klar, nichts passiert“ ab und stapfe voraus Richtung Fenster, durch das es zurück ins Gebäude geht. Heimlich wische ich mir eine Träne aus dem Gesicht. Von wegen Indianer.

Als wir wieder auf der Straße stehen, sind meine schwarzen Schuhe hellgrau vor lauter Staub und Dreck. Wir beschließen, unserem Kaffeedurst nachzugeben. Einfach ein bisschen rumsitzen und sich erholen kann jetzt nicht schaden, denke ich, sage aber natürlich nichts.

George erzählt vom Tunnelsystem, das sich unter ganz Bukarest erstreckt und von überall her zum Parlamentspalast führt. Die Tunnel stammen noch aus Ceaușescus Zeiten und waren für die Geheimpolizei gedacht. Tag und Nacht konnte überall in der Stadt plötzlich ein Trupp auftauchen, wie vom Erdboden ausgespuckt. „Erinnert ihr euch an das Haus, an dem wir heute Vormittag auf dem Weg zur Fabrik vorbeigekommen sind?“, fragt George. „Das hellgraue, an der Ecke, ohne Vorgarten?“ Wir nicken. „Das Ding ist eine Attrappe.“ Es wurde nur gebaut, um einen darunter liegenden Bunker zu tarnen – und den Eingang zum Tunnelsystem.

„Ihr müsst unbedingt auch noch einen Blick hier reinwerfen“, ruft George uns zu. Gerade gehen wir über einen großen Platz mitten in Bukarests Zentrum, direkt auf ein monumentales Gebäude zu: den Palast des Militärs. „Lasst uns so tun, als würden wir einen Tisch für morgen oder übermorgen reservieren. Wir sind Touristen, alles klar?“ Wir verstehen zwar nicht, wofür wir die Tarnung brauchen, aber folgen George die Stufen der riesigen Treppe hinauf Richtung Eingang. Er zieht die große, goldgefasste Glastür auf. Schnell schlüpfen wir durch den schweren Samtvorhang, der den dahinterliegenden Raum vor neugierigen Blicken schützen soll.

Vor uns tut sich ein mindestens 50 Meter langer Saal mit goldenen Wänden auf, über den sich eine ebenfalls goldverzierte Kassettendecke spannt. Die Szenerie wirkt surreal und aus der Zeit gefallen: Während draußen die Oktobersonne scheint, feiert hier drinnen, mitten am Tag, bei geschlossenen Vorhängen und schummriger Beleuchtung, die gehobene Gesellschaft in feinster 80er-Jahre-Abendgarderobe. Auf zwei meterlangen Tafeln reiht sich unter opulenten Kronleuchtern Gedeck an Gedeck, Sektglas an Sektglas.

Mitten drin: riesige Fanta-Flaschen, die auf dem Tisch drapiert sind als seien sie Champagner.

Ein Alleinunterhalter wippt an seinem viel zu großen Keyboard im Takt der Musik. Dazu haucht eine Sängerin in roséfarbener Robe und mit stark toupierter Fönfrisur, die Farrah Fawcett vor Neid hätte erblassen lassen, rumänische Liebesschwüre ins Mikro. Mit unseren Jeans und den dreckigen Turnschuhen wirken wir drei hier drinnen wie aus einer anderen Galaxie. Zwei Kellner, die am Rand einer kleinen Tanzfläche auf Bestellungen warten, kommen strammen Schrittes auf uns zu.

Sofort sind wir in unserer Rolle: „Guten Tag, wir würden gerne für heute Abend einen Tisch reservieren“, sagt George auf Rumänisch. Kopfschütteln bei den Kellnern. „Oder hätten Sie morgen noch etwas für uns frei?“, hake ich auf Englisch nach. Wieder Kopfschütteln. Auch als wir nach einem Tisch für die kommenden Tage fragen, bleiben die Kellner hartnäckig: Nichts zu machen. Inzwischen ruhen die Blicke der versammelten Gesellschaft auf uns. Ich fühle mich zunehmend unwohl. Schließlich geben wir auf. Rückzug ins Freie.

George mustert unsere verwirrten Gesichter und lacht vergnügt auf: „Früher hätte man uns nicht mal die Außentreppe zum Offizierscasino raufgelassen – Eintritt nur für Uniformträger.“ Auch heute noch, so scheint es, bleibt man hier gerne unter sich.

Mit der Metro fahren wir an den südöstlichen Stadtrand, zu unserem letzten Ziel für heute. Bei einer Metropole wie Bukarest, in der knapp zwei Millionen Menschen leben und die sich über mehr als 25 Kilometer ausdehnt, kann das schon mal eine gute halbe Stunde dauern. Nach der Reise in die Vergangenheit kommt es uns fast futuristisch vor, jetzt im Feierabendverkehr zusammen mit Pendlern und Rentnern im hellen Licht der Neonröhren durch den Bukarester Untergrund zu brausen.

Wir fahren bis zur Endhaltestelle – und sind doch noch nicht am Ziel.

Auf dem Bürgersteig, der an der vierspurigen Ausfallstraße entlang führt, entfernen wir uns gefühlt immer weiter von der Zivilisation. Wohin würde uns George diesmal führen? Bislang hatte er uns gegenüber nur seltsame Andeutungen gemacht: Er müsse uns noch etwas Außergewöhnliches zeigen. Doch jetzt, wo wir hier draußen sind, glimmt wieder die Angst auf: Was, wenn uns George hier in der Abgeschiedenheit einfach abzieht? Ein einsamer Baumarkt ragt rechts vor uns in die Höhe. Wir biegen ab. Unser Ziel: die älteste Chemiefabrik Rumäniens.

Seit einer Explosion im Jahr 1979 gleicht das Areal einer Trümmerlandschaft. Wie in einem Endzeitfilm, denke ich, als wir uns dem Gelände nähern. Die Fläche ist verwildert, ist Freiluftgalerie für Streetart-Künstler, Übungsgelände für Paintball-Freaks und auch schon mal Set für einen Outdoor-Porno, wie George mit einem Grinsen erzählt. Wie lange wird es diesen bizarren Spielplatz für Abenteuerlustige noch geben? „Das Industriegebiet ringsherum wird immer größer“, sagt George, „vielleicht schluckt es irgendwann auch die Ruinenlandschaft.“

Während die Dämmerung anbricht, klettern wir zwischen riesigen Betonklötzen und in Gebäudeskeletten umher. Das Unglück Ende der 70er muss verheerend gewesen sein, seine Zerstörungskraft gewaltig – nirgendwo auf dem Gelände gibt es eine Fabrikhalle, die nicht schwer beschädigt ist. Ob es damals Tote gegeben hat, frage ich George, doch er weiß es nicht.

Von einer alten Produktionshalle, bei der fast eine komplette Außenwand fehlt, beobachten wir, wie die Sonne am Horizont verschwindet, die Lichter des Tages langsam der Nacht weichen. Das Schönste an diesem Tag ist, dass es dieses Mal nicht allein um den Nervenkitzel ging, der für mich so untrennbar mit Erkundungstouren verlassener Gebäude verbunden ist, sondern dass George uns sein ganz persönliches Bukarest gezeigt hat. Keine Frage, die wir gestellt haben, war ihm zu banal, kein Ort zu abseitig, um ihn uns nicht zu zeigen, um uns nicht mitzunehmen auf Entdeckungsreise. An einem einzigen Tag haben wir so viel mehr über die rumänische Hauptstadt erfahren, als jeder andere Stadtführer uns hätte zeigen können.

„Warum kommt ihr nicht noch mal wieder?“, fragt George uns zum Abschied.

„Es gibt noch so viel in Bukarest, das ihr unbedingt sehen müsst.“

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Taina Niederwipper macht PR für gute Sachen, ist Bloggerin, freie Autorin und Fan chronisch unterschätzter Reiseziele. Sie lebt in Berlin, hat aber den Ruhrpott im Herzen. Matthias Steinbrecher ist News-Junkie und Nachrichtenmacher bei der Deutschen Welle. Er verliert sich gern in Subkulturen aller Art und brennt vor allem für Ost- und Südosteuropa. > bware.blog

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