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The Travel Episodes

Shortlist: Sudan

Wenn ich an Khartum denke, denke ich an Alkohol

„Nun ja“ sagt der Russe. „Ich glaube dir nicht. Du bist bestimmt eine Spionin. Aber das ist mir egal, solange ich mein Geld bekomme.“

Von Charlotte Meyn

Das mag absurd klingen, Alkohol ist im islamistischen Sudan verboten, wird mit vierzig Peitschenhieben bestraft. Und doch trinke ich während der sechs Monate in Khartum mehr davon als je zuvor in meinem Leben.

Ein kühles Bier auf der Terrasse der britischen Botschaft, danach lädt mich der Kirgise, der neben mir sitzt, ein, mit ihm auf den Tag des sowjetischen Geheimdienstes einen Wodka zu trinken, während außerhalb der Botschaftsmauern der Muezzin zum Isha-Gebet ruft. Die Nächte im Hof eines Hotels, von einem Deutschen betrieben, in einem anderen Leben Architekt in Südamerika, in denen ich unter dem Affenbrotbaum eine Wodka-Cola nach der anderen trinke, um mich schließlich, glücklich und berauscht, in das kühle Wasser des Pools zu stürzen.

Der kleine, verhutzelte Mann aus Äthiopien, der den Alkohol ausschenkte, schwankt normalerweise selbst bereits gegen zehn Uhr ganz erheblich. Und immer wieder: araqi, der schwarzgebrannte Dattelschnaps, von meiner ugandischen Freundin nur „the local drink“ genannt. Konsumiert auf dem Dach der Schule, in der wir wohnen, während wir auf Matratzen herumliegen, die Nüchterneren sitzen auf Stühlen, die wir aus den Klassenzimmern hochgeschleppt haben, und blicken über die vor sich hindämmernde Stadt.

Oder: Unter dem Tisch herumgereicht, heimlich, auf der Terrasse eines Restaurants mit Blick auf den Nil. Immer, wenn wir den Eindruck haben, gerade würde niemand hinschauen, holen wir die Flasche hervor, mal trinkt die eine, mal die andere, und wir kichern über unseren Grilltellern. Ein Gefühl, als sei man wieder vierzehn und würde heimlich im Jugendzimmer der Freundin, deren Eltern nicht da sind, die Wodkaflasche herumreichen, die ein Älterer an der Tankstelle gekauft hat.

An den einschlägigen Trinkorten, auf den geheimen Partys, in den Botschaften und Hotels, trifft man immer wieder dieselben Leute, Menschen, mit denen man kaum hätte reden wollen, wäre man ihnen irgendwo anders begegnet. Auf den ersten Blick haben sie nichts mit einem gemeinsam. Auf den zweiten alles.

Denn sie sind ebenfalls nach Khartum gekommen.

Wer nach Südostasien fährt, der träumt vom tropischen Paradies. Wer nach Saudi-Arabien fährt, kann wenigstens noch die hohen Löhne als Grund nennen. Aber wer in aller Welt fährt in den Sudan? In ein Land, das arm ist, korrupt, zerrissen, von Islamisten regiert, von den USA seit Jahrzehnten mit einem Handelsembargo belegt? In dem fast alles, was Spaß macht, illegal ist? Wer fährt nach Khartum, in diese graubraune Stadt aus Mauern, Sand und Müll? Niemand, der seine Sinne beisammen hat, betritt diesen Ort freiwillig. Hier sind nur Irrlichter, verlorene Seelen, Wahnsinnige, die es irgendwie an dieses Ende der Welt verschlagen hatte. Ein russischer Geschäftsmann, der mich der Spionage bezichtigt (dazu später). Ein bayrischer Förster, der Hubschrauber vermietet, und behauptete, er könne jede Art von Krebs durch Pflanzen heilen, das hätte man ihm in der Kalahari-Wüste beigebracht. Und ich.

Es ist November, als ich in den Sudan komme, um für meine Masterarbeit zu forschen und nebenbei zur Finanzierung Deutschstunden zu geben. Die Privatschule, in der ich unterrichte, die drittteuerste der Stadt, ist trotz allem ein armseliges kleines Gebäude, in dem immer wieder der Sand durch die offenen Fenster in die gelbgestrichenen Klassenzimmer weht. Sie gehört einem dürren Inder, der immer missmutig dreinblickt. Morgens ist der Feldweg neben dem Schultor vollgestopft mit teuren Wagen, Mercedes, BMW, allesamt weiß, die ein Kind in blauer Uniform nach dem anderen ausspucken. Mein Visum habe ich erst nur für zwei Monate bekommen, man hat mir gesagt, ich kann es vor Ort verlängern lassen.

Auf die Verlängerung warte ich verzweifelt, Woche für Woche. Ich beginne zu unterrichten, merke, dass ich meine Schüler überfordere, unterrichte langsamer. Wenn man acht Stunden die Woche unterrichtet, bleibt viel Freizeit, die ich damit verbringe, mich zu betrinken. Sonst gibt es wenig zu tun in dieser Stadt, in der es keine Kinos gibt, keine Clubs, keine Konzerte. Ich fahre ziellos in den gelben Motorrikschas durch die Innenstadt, streune durch die Afra Mall, das Einkaufszentrum, und frage mich, wieso all die reichen Saudis mit ihren vollverschleierten Frauen ausgerechnet hierher kommen. Nachmittags sitze ich im Café Ozone, unter Palmen und Wassersprinklern, wo sich Ausländer und reiche Sudanesen treffen, lese ein Buch nach dem anderen auf meinem Kindle und esse Karottenkuchen. Nicht einmal die Stadt verlassen kann ich, dafür brauche ich eine separate Erlaubnis von der Regierung, an die es nahezu unmöglich ist, heranzukommen. Und erst, wenn mein Visum verlängert wird, kann ich eine Forschungserlaubnis beantragen. So lange verbringe ich meine Freizeit damit, ins Goethe-Institut zu fahren, dort auf den Bänken im Hof Cola zu trinken und den jungen Ärzten und Ingenieuren, die Deutsch lernen, bei ihren Hausaufgaben zu helfen.

Mit einem von ihnen, Ibrahim, dunkle Haut, melancholisches Lächeln, sitze ich eines Tages in einem jemenitischen Schnellrestaurant mit abwaschbaren Tischen und laminierten Karten. Wir haben gerade den Gebrauch von Verben im Passiv besprochen, als er mir sagt: „Als ich hierhergekommen bin, war ich mit all der Freiheit überfordert.“ Ich bin sprachlos. Von welcher Freiheit redet er? Täglich sehne ich mich danach, ein kurzes Kleid anzuziehen, auf offener Straße Bier zu trinken. Es stellt sich heraus, dass Ibrahim in Saudi-Arabien aufgewachsen ist. „Ich hatte noch nie Kontakt zu einer Frau gehabt, mit der ich nicht verwandt bin. Hier saß ich plötzlich im Bus und in der Uni neben Frauen, und konnte auch noch deren Gesichter sehen! Ich wusste überhaupt nicht, wie ich reden soll mit ihnen.“ Mittlerweile scheint Ibrahim seine Hemmungen überwunden zu haben: Immerhin will er Gynäkologe werden. Er ist der erste Mensch, den ich im Sudan treffe, der sich als Atheist bezeichnet. Jetzt wartet er darauf, dass er sein Studium beenden und nach Deutschland reisen kann.

Alle Menschen im Sudan scheinen zu warten. Darauf, dass sie das Land verlassen können. Darauf, dass Bashir, der Diktator stirbt. Darauf, dass sie selbst sterben. Darauf, dass irgendetwas passiert, incha allah. Vielleicht projiziere ich nur. Denn auch ich, ich warte. Und irgendwann sagt man mir, dass mein Visum nicht verlängert wird.

Ich verzweifle. Mit sudanesischen Freunden, die übersetzen, verbringe ich meine Zeit damit, in eine Behörde nach der nächsten zu fahren, in unordentlichen, muffigen Büros mit schwitzenden Beamten zu diskutieren, und zu warten und zu warten und zu warten. Immer vergeblich. Es gibt Tage, da will ich nur noch gehen. Aber ich will forschen. Das habe ich mir vorgenommen. Davon weiche ich nicht ab. Und dann erzählt mir ein Freund, dass er Menschen kennt, die mir ein Visum verschaffen können.

Ich treffe die zwei Männer im Café Ozone, beides grobe, vierschrötige Kerle, der Südsudanese ist größer, der Russe kleiner. Sie hören sich stirnrunzelnd meine Geschichte an. „Nun ja“ sagt der Russe und nimmt einen Schluck von seinem Mangosaft. „Ich glaube dir nicht. Du bist bestimmt eine Spionin, so unschuldig, wie du aussiehst. Aber das ist mir egal, solange ich mein Geld bekomme.“ Sie geben mir eine andere Nummer, die eines Sudanesen, der Kontakte hat, den ich drei Tage später an derselben Stelle treffe. Ein unauffälliger Mann mit krausem Haar und schlechter Haut, gekleidet in einen billigen beigefarbenen Anzug. Eigentlich will ich ihm mein Geld nicht geben, ich tue es aber doch. Aufgrund der Inflation ist der größte Geldschein keine zehn Euro wert, deshalb habe ich die Geldbündel in eine Papiertüte gestopft. Ich rechne damit, ihn nie wiederzusehen.

Aber dann bekomme ich mein Visum tatsächlich. Ich fasse es nicht. Und dann geht alles ganz schnell.

Die Universität Khartum vermittelt mir einen Übersetzer, einen kleinen, freundlichen Mann in meinem Alter mit großer Nase und kahlgeschorenem Kopf, der mir Menschen sucht, die bereit sind, sich von mir befragen zu lassen. Ich verbringe meine Tage nun damit, durch die Randgebiete Khartums und Omdurmans zu fahren. Tag für Tag sitze ich mit meinem Diktiergerät in sandigen Innenhöfen, in denen man im Hintergrund immer irgendwo einen Fernseher lärmen hört, zwischen rötlichen Mauern, meist auf einer Angareb, einer mit Palmblättern bezogenen Liege mit Holzrahmen, während die Kinder des Hauses mich meist aus sicherer Entfernung betrachten, hin- und hergerissen zwischen Neugier und Schüchternheit. Mal umringen mich Männern in langen weißen Galabiyas, mal Frauen in bunten Thobes und ich halte ihnen mein Diktiergerät vor die Münder. Ich habe mit Skepsis gerechnet. Stattdessen ist man begeistert von mir. Als Weiße in Afrika ist man immer ein Kuriosum, normalerweise erhoffen sich die Leute aber Geldsegen oder ein deutsches Visum. Und wer könnte es ihnen verdenken? Hier aber will man die Aufwandsentschädigung, die ich zahle, oft nicht annehmen, ich muss die Leute dazu nötigen. Die Menschen hier sind vom Staat vergessen worden, niemand interessiert sich für sie. Dass plötzlich eine wildfremde Weiße auftaucht und sie ausfragt, muss ihnen wie ein Traum vorkommen.

Meine Forschungen, und das Schuljahr, neigen sich dem Ende zu. Es wird März, dann April, bald fünfzig Grad. Die Hitze verklebt mein Hirn, macht meinen Körper träge. Die Inaktivität dieses Ortes steckt mich an. Als ich nach Khartum gekommen bin, sind meine Schritte noch zügig gewesen, habe ich die anderen Menschen immer überholt. Mittlerweile bewegte ich mich genauso langsam durch die Straßen wie sie. Jetzt, dringend, muss ich verschwinden.

Dorthin, wo das Leben grüner ist.

Nach Süden.

Und so fliege ich eines Morgens nach Juba.

Man kann kaum glauben, dass beide Städte, Khartum und Juba, einmal zum selben Land gehört haben. Khartum ist heiß und trocken und staubig. Juba ist heiß und feucht und grün. In Khartum weckt einen um fünf Uhr morgens der Ruf des Muezzins. In Juba hängt in jedem Haus, in jedem Kiosk, ein buntes, kitschiges Plakat, mit einem riesigen Jesus, einer überdimensionalen Maria, oft umrahmt von einem Bibelspruch. In Khartum werden Shorts selbst an Männern nicht gerne gesehen, man muss seinen Körper bedecken. In Juba sehe ich mehrmals Männer, die splitterfasernackt durch die Innenstadt spazieren, ohne, dass es jemanden zu stören scheint.

Juba ist eine Stadt, die gleichzeitig rasend schnell wächst und zerfällt. Ein Haufen Häuser, planlos in die Landschaft gesetzt, kaum asphaltierte Straßen, kein Strom, wenn man keinen Generator hat, keine Infrastruktur, umgeben von einem Land, das im Chaos, im Bürgerkrieg versinkt. Gleichzeitig: ein Laden nach dem anderen, der Hausbaumaterialien, Möbel, Matratzen feilbietet. In den meisten afrikanischen Städten gibt es ein Zentrum, in dem man sich fast in Europa wähnen kann. Die Armut, die Imperfektion, werden weiter hinten versteckt. In Juba muss man auch in der Innenstadt nur um die nächste Straßenecke biegen, um heruntergekommene Strohhütten zu sehen, Kinder mit aufgeblähten Hungerbäuchen, Müllberge. Nirgendwo in der Stadt gibt es Trinkwasser zu kaufen, zum Glück kenne ich Menschen, die einen Brunnen haben. Nach neun Uhr abends, sagt man mir, darf man nicht mehr auf die Straße. Ich bin auf dem Gelände einer Adventistengemeinde untergekommen, in einem kleinen Gästehaus, nebenan gleich zwei Kirchen, in denen sich samstags bunt gekleidete Südsudanesen versammeln, viele passen nicht mehr in das Gebäude hinein. Angesichts der desolaten Lage des Landes ist der Optimismus, mit dem sie ihre Lieder singen, beachtlich.

Eines Nachts, ich bin eine Woche in Juba, liege ich in der heißen, feuchten Luft unter dem Moskitonetz. Der Ventilator ist gegen zehn ausgeschaltet worden, genau wie der ganze Strom. Das einzige Licht im Raum kommt von meinem Kindle. Ich bin noch nie ein ängstlicher Mensch gewesen, aber hier haben sich meine Sinne scharfgestellt. Ich lausche den Stadtgeräuschen jenseits der Mauer, hörte Autos. Da, jemand ruft etwas, und sofort zucke ich zusammen, sofort erscheinen Bilder auf der Leinwand in meinem Kopf. Erst gestern, so habe ich gehört, wurde ein Politiker nachts auf der Straße erstochen. Welche Unmenschlichkeiten mögen sich hier, wenige Meter von mir entfernt, abspielen? Sind die Mauer, die das Gelände der Kirchengemeinde umgibt und die bewaffneten Securities nicht nur eine Illusion, um mich selbst zu beruhigen? Werden sie im Ernstfall ausreichen, um mich zu schützen? Warum bin ich eigentlich hier gelandet? Meine Lektüre an diesem Abend, Orwells 1984, ist auch nicht gerade geeignet, mich zu beruhigen. Ich schlafe ein, träume wirr, fasse am nächsten Morgen einen Entschluss.

In Khartum war es sicher, aber alles war verboten. In Juba ist alles erlaubt, aber das Leben ist gefährlich. Ich sehne mich nach einem Ort, in dem ich mich nicht ab neun Uhr abends hinter hohen Mauern verschanzen muss, und trotzdem an jeder Ecke ein Bier kaufen kann.

Ich habe Heimweh.

Und so steige ich einen Tages in ein Flugzeug nach Berlin.

Seit ich wieder in Deutschland bin, habe ich kaum jemals Alkohol getrunken. Auf Partys gehe ich auch nicht. Jetzt, wo ich das alles darf, hat es seinen Reiz verloren. Hier falle ich nicht auf, gehe ich auf die Straße, sehe ich hunderte von Frauen, die so aussehen wie ich. Ich habe alles mit ihnen gemeinsam.

Und doch nichts.
Denn ich war in Khartum.

 
 
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Charlotte Meyn, geboren 1987, wuchs in Ellerstadt/Pfalz auf. Schon als Kind träumte sie davon, die Welt zu bereisen. Sie studierte Medien- und Kommunikationswissenschaft und Osteuropastudien an der Universität Hamburg und schloss mit einem Bachelor of Arts ab. Im Anschluss absolvierte sie den Masterstudiengang Afrikawissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zwischendurch zog es sie immer wieder ins Ausland, unter anderen nach Prag, Khartum und Niamey. Sie lebt allein in Berlin.

 

* * *

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