Bis Bozen geht es flott im ICE. Viel schneller als damals. Dann werden die Züge immer kleiner und langsamer. Nadelwälder ziehen vorbei, erste Felsmassive kommen in Sicht. Und wieder erinnere ich mich an die kindliche Angst. Wie schlimm muss es für meine Eltern gewesen sein, die als Kinder den Krieg erlebten und ständig weggeschickt wurden, Ziel unbekannt. Und wie muss es heute für all die Flüchtlingskinder sein, aus Syrien, Eritrea und Somalia? Wie viel Schmerz können Kinderseelen aushalten? Wie viel Unrecht können Menschen ertragen? Das Chaos in der Welt, die Krisen und das Elend, die nicht enden wollenden schlechten Nachrichten, die täglich über das Internet und die Medien auf mich herabprasseln, auch das treibt mich in die Berge. Auf der Suche nach Ruhe. Bitte einmal komplett das System runterfahren und dann aufladen und Neustart.

Man sagt, dass die Berge Energie haben. Bitte, liebe Berge, gebt mir davon ab und erdet mich.
Statt Erdung erstmal eine wackelige Schwebebrücke. Statt Stille das tobende Rauschen des Wasserfalls.

Ich bin im Geigenwald im Val di Fiemme. Es duftet nach Fichte. Die Luft strömt weich und würzig in meine Lungen. Berge, Weiden und Wälder werden als Gemeinschaftseigentum verwaltet und bewirtschaftet. Berühmt wurde der Foresta dei Violini, weil seine Nadelbäume außergewöhnliche Holzqualität haben und das Geheimnis der alten Geigenbaumeister hüten: Der große Stradivari soll persönlich gekommen sein, um das Holz für seine Violinen auszusuchen. Für die Herstellung von Geigen werden hier Höchstpreise erzielt.
Der wichtigste Mann in so einem kostbaren Wald ist der Förster. Und den treffe ich jetzt.
Guiliano lacht. Wenn der Mund nicht lacht, lachen die Augen. Der Mann liebt seinen Beruf und wenn er nicht den Wald hütet, ist er als Bergführer unterwegs. Ich staune nicht schlecht, als er mir erzählt, wo er schon überall war: in den Anden Perus und Ecuadors, in Argentinien, Nepal, Tansania, in der Türkei und in Marokko. Und was immer auf der Welt passiert, Guiliano macht sich keine Sorgen. Nie. Anders als ich. Und freut sich, wenn er wieder zu Hause in den Dolomiten ist. Denn da ist es am Schönsten. Sagt Guiliano.
Guiliano nimmt mich mit. „Nach oben“, sagt er grinsend, „dorthin, wo die Bäume nicht mehr wachsen, zu den Felsmassiven des Rollo.“ Wow, ja, das sind die Dolomiten. Wie Zacken, wie Fontänen aus Stein ragen sie jäh aus den sattgrünen Wiesen empor. In ganz Südtirol und dem Trentino tauchen Dolomitengruppen mit ihren Zinnen und Gipfeln auf wie Felsinseln. Sie haben klangvolle Namen wie Lankofel, Plattkofel, Latemar, Sella, Marmolada und Civetta. Wir stehen gerade vor der Palagruppe mit den Gipfeln Pala, Vezzana und Bureloni. Und sie verändern ihre Farbe je nach Tageszeit, Wetter und Licht.
Die Dolomiten gelten seit 2009 als Unesco-Weltnaturerbe und zählen zu den fünfzig schönsten Landschaften Europas. „Woher kommt eigentlich der Name?“, frage ich Giuliano. „Kommt er vom gleichnamigen Gestein?“ „Nein“, lacht Guiliano, „der Name kommt aus Frankreich, oder besser gesagt von einem Franzosen.“ Gut, dass das Gebirge nicht seinen kompletten Namen trägt, denn der lautet so: Déodat Guy Sylvain Tancrède Gratet de Dolomieu. Gelebt hat der kleine Mann mit dem langen Namen von 1750 bis 1801. Er war Geologe und entdeckte im Trentino eine „merkwürdige Gesteinsart, die wie Kalk aussieht aber kein Kalk ist“. Und schon ist das Dolomia geboren. Fortan erhält auch die Alpenregion den Namen Dolomiten.
„Sie können weiß sein wie der Schnee, gelb wie die Sonne, grau wie die Wolken, rosa wie eine Rose, rot wie Blut. Was ist die Farbe der Dolomiten?“
Dino Buzzati
Je höher ich komme, desto weiter scheinen meine Gedanken zu schweifen. Ich bin jetzt auf 3000 Meter Höhe über dem Meerespiegel. Die Luft ist glasklar. Ich sitze, schaue und staune. Unglaublich, dass das hier alles mal ein Meer war und die Spitzen der Dolomiten Riffe im Wasser! Es dauerte 280 Millionen Jahre, bis dieses Gestein auf dem Meeresboden entstehen konnte. Korallen, Kalkalgen und Muscheln hatten ihren Anteil daran. Vor 80 Millionen Jahren schob sich die Afrikanische Kontinentalplatte gegen die Eurasische und die Erde faltete sich auf. Korallenriffe und Meeresboden tauchten auf: die Dolomiten. Irgendwie ist es sehr beruhigend zu wissen, wie viel Zeit und welche Naturgewalten diese Felsen geformt haben. Diese Beständigkeit, der Ausdruck von Sicherheit und Kraft ist etwas, was mir fehlt in unserer schnelllebigen Zeit, wo alles anders ist, kaum hat man sich an etwas gewöhnt.
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Leserpost
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Maria M. Koch on 27. September 2015
Einfach fantastisch. Ganz großes Kompliment für diesen Blick auf die Dolomiten.
gitti on 27. September 2015
Danke! Die Menschen dort haben es mir leicht gemacht.
Jutta voigt on 28. September 2015
Die Bilder der Dolomiten sind einfach grandios. Und was die Erfahrungen mit den dort lebenden und das eigene empfinden dort in gewaltigen Natur angeht kann ich nur zustimmen. Mir öffnet sich dort das Herz und der Geist in einer nicht nachvollziehbaren Art und weise. Es klärt sich der Blick für das wesentliche. Aber es birgt viel Frieden Insichgehen.
gitti on 13. Oktober 2015
Natur ist in vieler Hinsicht die beste Medizin. Und das spüren wir bewußt oder unbewußt. Danke für Dein Feedback!
Roberta on 5. Oktober 2015
This travel across the Dolomites was enchanting! thanks Gitti, you’re an amazing woman xxx
gitti on 13. Oktober 2015
Thank you, Roberta. Hope you will enjoy the Dolomites some day traveling in realtime (-:
Joachim on 20. Oktober 2015
Eine schöne Reportage!
Das Sein in den Bergen, aber auch die Form hier im Internet: Mit Texten, Bildern, Filmen und Tondokumenten – und alles schön groß und ruhig!
Danke!
gitti on 24. Oktober 2015
Danke Joachim. Ich mag dieses Format auch sehr. Es ist das Baby von Johannes Klaus. Eine sehr schöne Idee!
Roland Rast on 21. Oktober 2015
Gratuliere zu dieser gelungenen Reportage liebe Gitti!
Habe ich mit großem Interesse Gelesen
Herzliche Grüße
Roland
gitti on 24. Oktober 2015
Danke für die Blumen lieber Roland!
ola on 5. November 2015
Der Ortsunkundige könnte sich durch diesen Artikel den Eindruck verschaffen, die Dolomiten befinden sich ausschließlich im Trentino und in Südtirol – Der Vollständigkeit halber sei mir nur eine kleine Ergänzung erlaubt: Das Dolomitengebiet umfasst auch das Cadoretal, wo auch Ladinisch gesprochen wird, vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Dolomiten.
gitti on 3. April 2016
Danke für die Ergänzung! Die Dolomiten sind groß, ja. Und Ladinisch wird zudem noch in der Provinz Belluno gesprochen, in Buchenstein und Cortina d’Ampezzo.
Roberta Piazza on 5. November 2015
I really enjoyed this travelog. It communicates a great sense of peace and energy, so typical of Gitti. Well done!
gitti on 3. April 2016
Thank you so much Roberta
Peter Lanzet on 12. Februar 2016
Oh wie wunderbar, Impressionen vermittelt als ob man selbst dabei ist. Eigentlich wollte ich immer in den Bergen leben, da ist etwas alemannisches, etwas von meiner Mutter. Vielen Dank, ganz Klasse
gitti on 3. April 2016
Danke Peter, freut mich wenn du „dabei“ warst. Genau das ist das Ziel. Vielleicht klappt es ja eines Tages mit in den Bergen leben. Die Alm, die ich besucht habe, nimmt auch Sommergäste, die gegen Kost und Logis mit anpacken.