Kurz vor Mitternacht im Süden Minnesotas, dem Land der 1000 Seen, das im Sommer auch als Land der 1000 Moskitos bekannt ist. Der 24-jährige Basket steckte eine Hand unter sein T-Shirt und kratzte sich, während er mit der anderen Hand über die Straße auf den Hals des Rangierbahnhofs zeigte, jene Stelle, auf die hin sich alle Gleise des Geländes verjüngen und wo sie in einem Schienenstrang münden.
Auf dem Güterbahnhof in Waseca, etwa 70 Meilen südlich von Minneapolis und 40 von Ricardos Wohnort St. Peter entfernt, knallten die Waggons aneinander und zerrissen die Stille, die über der Kleinstadt lag. Tuck, Ricardo, Basket und ich befanden uns, von einer Landstraße getrennt, auf der anderen Seite des Geländes, auf einem Parkplatz am westlichen Ende Wasecas. Tuck lag auf dem Boden, weil er Rücken hatte.
Ricardo holte eine halb gerauchte Zigarette aus dem Saum seiner Kappe und zündete sie an. Tatsächlich hatte er sich sofort begeistern lassen. Vor allem, nachdem er sich in seiner neuen Funktion als König mit der Stadt Britt hatte rumschlagen müssen. Einige hatten sich über die Jugendlichen beschwert, die Druffies aus dem Box Wagon, die durch die Stadt gezogen und den Bürgern zugerufen hatten: Kündigt eure Jobs! Fahrt mehr Güterzüge! Boykottiert Coca-Cola! Legalisiert Marihuana!
Basket klärte uns über diesen Yard auf, mit dem er sich bestens auskannte, weil er alle Strecken in der Gegend schon Dutzende Male gefahren war. Außerdem arbeitete er derzeit auf einer Milchfarm in der Nähe, wo seine Aufgabe darin bestand, Kuhdung zu entsorgen. Aber eigentlich wollte er Schriftsteller werden. Tuck und Ricardo hatten ihn in Britt kennengelernt.

Gegenüber fuhr der Zug immer wieder aus dem Bahnhof, dann wieder rein, um andere Waggons aufzunehmen. Stahl auf Stahl, wieder und wieder, ein herrliches Donnerwetter im Gelände. Basket bekam glasige Augen. Fehlte nur noch, dass er auf die Knie fiel. Dabei ist die Rede hier von stinknormalen Güterzügen. Diese Güterzüge werden irgendwo mit Waren beladen und transportieren diese irgendwohin. Das ist doch kein Grund, gleich auszuflippen, oder?
Um das zu verstehen, muss man wissen, dass die Eisenbahn in den USA eine völlig andere Bedeutung als in Deutschland oder irgendeinem anderen europäischen Land hat. Die Besiedlung des amerikanischen Westens wird zwar immer romantisch über die Planwagentrecks vermittelt, aber tatsächlich erledigte das die Eisenbahn, erst sie verteilte die große Zahl an Menschen über das Land. Dass überhaupt eine Transkontinentale gebaut wurde, war dabei nicht selbstverständlich. Keiner wusste, wozu man die gebrauchen könnte. Von der ersten Idee bis zum tatsächlichen Baubeginn vergingen 21 Jahre. Aber als sie dann 1869, vier Jahre nach Ende des verheerenden Bürgerkriegs, fertiggestellt wurde, da heilte sie sogar diese Wunden, weil sie die Teile des Riesenlandes verband.
Während in Deutschland das Eisenbahnnetz über bestehende Siedlungsstrukturen gelegt wurde, war es in den USA genau andersrum. So wurde aus vielen Orten überhaupt erst ein Ort. Andere verdoppelten über Nacht ihre Größe, manche verschwanden wieder von der Bildfläche.
Das Land war erfüllt von den Schlägen der Hämmer auf die Nägel, drei Schläge pro Kopf, vier Balken die Minute. Billiger Stahl befeuerte den Boom der Eisenbahn, und zu Hochzeiten dieser Ära lagen rund 410 000 Kilometer Gleise überall im Land. Ein kostenloser eiserner Pfad für diejenigen mit Butter in den Knien und dem Willen, auf jeglichen Komfort zu verzichten.
Aber in den 1950ern liefen die Autobahnen und die Flugzeuge der Eisenbahn den Rang ab, so wie sie einst die Dampfschifffahrt auf den großen Flüssen abgelöst hatte. Die Güterzüge übernahmen die frei werdenden Gleise. Dennoch sprechen die Namen der wenigen Passagierzüge immer noch Bände über das Selbstverständnis und die Geschichte eines Bewegungsmittels, das das Land zu einer Nation gemacht hat: Empire Builder, Texas Eagle, California Zephyr. Wie heißen die Züge in Deutschland? Weiß das überhaupt jemand? Ich weiß es, weil ich mich jedes Mal darüber aufregen kann, dass man Millionen Euro investiert und verbaut und dann die Züge einfach Torgau, Lichtenfels oder Magdeburg nennt.
Eine Stunde verging, dann zwei. Die Carknocker, die den technischen Zustand des Zuges überprüfen, liefen ihn ab, ein paar weitere Waggons wurden angehängt, dann passierte eine Weile nichts. »Gewöhn dich ans Warten, mein Freund.« Tuck stand auf und streckte seinen Rücken durch. Es knackte so laut wie zwei aufeinanderprallende Kupplungen. Dann legte er sich wieder hin.
Ein Polizeiwagen fuhr an uns vorbei. Noch einer in die andere Richtung, raus auf die Landstraße. In Ricardos Tasche befand sich eine Pillenbox, in der keine Pillen, sondern acht Joints versteckt waren, die er bei sich zu Hause vorgedreht hatte.
Dann, endlich, ließ die Lok ihren lang ersehnten Pfiff los.
Tuck stand sofort kerzengerade da, schulterte seine Tasche. Ricardo klatschte in die Hände und sagte: »Alter, auf dem Zug werden wir uns aber so was von wegschießen.«
Mit seinem Wagen setzte uns Basket eine halbe Meile weiter vorne im Gelände ab. Obwohl es dunkel war, konnte man problemlos den anhaltenden Glanz in seinen Augen erkennen. Am liebsten hätte er alles hingeschmissen und wäre mitgefahren.

Wir stiegen aus und duckten uns zwischen ein Maisfeld und ein Getreidesilo. Die Nacht war sternenklar, das zurückkehrende Polizeiauto deswegen leicht zu erkennen. Tuck und Ricardo stolperten ins Feld, schmissen sich hin.
Moskitos flogen auf. Die Polizei fuhr weiter.
Der Zug zog aus dem Bahnhof, und das Licht der Lok näherte sich unserem Standort. Die Gleise begannen zu singen. Der Schotter tanzte im Gleisbett. Ein weiterer Pfiff. Der Ruf der Wildnis. Mein Herz klopfte so schnell wie schon lange nicht mehr. Es war kurz nach Mitternacht.
Drei Uhr morgens, und wir standen immer noch. Glockenwach lag ich in meinem Schlafsack und rauchte eine Zigarette, schaute durch das Loch in den Sternenhimmel wie vielleicht umgekehrt ein Astronaut aus der ISS auf die Erde.
Das Versteck war überraschend groß. Man konnte sich fast ganz langmachen, fast ganz aufrichten. Ricardos und meine Kajüte waren durch eine Wand abgetrennt, allerdings gab es darin ein weiteres, ein großes Loch – das da auch sein sollte –, und dadurch konnte ich sehen, wie er im Schneidersitz an ebendieser Wand lehnte und langsam wegnickte.
Der Stahl unter mir kühlte ab. In der Dunkelheit schob ich die größten Brocken zur Seite. Auch dafür hat man Handschuhe. Es roch nach Abwasser und Kacke. Egal, wie obskur oder klein eine Eisenbahnlinie ist, man kann sich immer sicher sein, dass ein anderer sie schon gefahren ist.
Vom Waggon nebenan drang laut Tucks knurriges Schnarchen herüber.
Ein Zischen ging durch den Zug, es war genau 3:30 Uhr. Das Geräusch kam immer näher. Es wanderte von Bremsschlauch zu Bremsschlauch, erreichte schließlich unseren Waggon. Ricardo wurde wach, schaute mich an und rief: »Jetzt geht’s lo-hos!«
Die Sirene ertönte zweimal. Abfahrt.
Mit einem mächtigen Ruck setzte sich der Zug in Bewegung und zwang die Waggons kraft aller Pferdestärken der Dieselmaschine, ihm zu folgen. Die ganze Welt war Lärm, scheiße, war das laut. Der Lokführer beschleunigte, und waagrecht flogen das Maisfeld und das Getreidesilo vorbei, unser altes Versteck.
Tuck schlief weiter.
Ricardo sah mich durch das Verbindungsloch unserer beiden Kajüten an, schrie durch den Lärm, nicht leicht zu verstehen: »Schön, den Wind wieder im Gesicht zu spüren!« Auf seinem Gesicht lag ein spitzbubenhaftes Lächeln. Er zog einen Joint aus der Pillenbox hervor und zündete ihn an. Atmete ein, atmete aus. Der Rauch tanzte kurz in dem Versteck, dann riss der Sog ihn nach draußen, und er verflüchtigte sich über den Maisfeldern.
Ich schaute aus meinem Loch auf die zuckelnden Kupplungen. Sie haben immer etwas Spiel, und die Waggons entfernen sich voneinander, wie eine Kette, die man in die Länge zieht. Bis der Lokführer Gas gibt. Dann knallen alle Waggons ineinander, und der Zug springt einen halben Meter nach vorne wie jene wilden Mustangs der Comanchen. Du wirst geschüttelt, gerüttelt und umhergeschmissen. Slack Action nennt sich das, und der »Crew Change Guide« warnt eindringlich davor. Wenn du keinen guten Stand hast, keinen guten Platz … dann darfst du dich einreihen in die Horden jener, die von so einem Zug neben die Gleise oder, schlimmer noch, zwischen die Räder gefallen sind. Auf einem Güterzug zu reiten ist Rock’n’ Roll in seiner ursprünglichen Bedeutung.
Der Himmel hellte auf, und die Sonne verdrängte das bläuliche Licht der Nacht. Über den Feldern lag Nebel. Am Kopfende des Zuges betätigte der Lokführer bei jeder Zufahrt auf einen Bahnübergang die Sirene.
Ricardo fingerte den nächsten Joint hervor.
Silbern drehten sich die Räder auf den rostroten Gleisen. Als wäre die moderne Gesellschaft untergegangen und dies die einzige Möglichkeit, um fortzukommen.
Im anderen Waggon, ole dirty face fahrend, steckte Tuck seinen Kopf durch das Loch. Der Wagen war eierschalenweiß. Neben Tucks Guckloch befand sich der Bremszylinder und ein großes Rad für die Betätigung der Waggonluken. Eine rostige schwere Kette hing herab und wackelte mit jeder Bewegung des Zuges.
Tucks weißer Pferdeschwanz flatterte im Wind. Er rieb sich kurz die Augen, dann klemmte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Er war etwa zwei Meter entfernt, ich hatte einen guten Blick auf ihn. Seine topasblauen Augen tasteten gierig die Gegend ab: die kleinen Orte, die Menschen, die in ihren Autos zur Arbeit fuhren, die Lippen an einem Kaffeebecher, kollektive Müdigkeit. Andere parkten vor den Frühstückscafés, bestellten Eier sunny side up mit Bacon und gebuttertem Toast. Die Ampeln an den Bahnübergängen blinkten rot und klingelten hell. Dann wieder Landschaft. Dunst lag über den Bäumen, die den Minnesota River flankierten. Vögel stiegen auf und schwangen sich in den Himmel.

Irgendwo zwischen Mankato und New Ulm kam der Zug knirschend zum Stehen. Einfach so. Vielleicht musste er auf ein Durchfahrtssignal warten, vielleicht einen anderen, wichtigeren Zug durchlassen, vielleicht war etwas kaputt. Es gibt viele mögliche Gründe für den plötzlichen Halt eines Güterzuges. Fakt war: Er stand. Um uns herum nur Wald. Die Sonne brannte den Dunst aus der Luft. Stille wie nach einem Schusswechsel.
Tuck kletterte aus seinem Loch, stellte seine Füße auf zwei dünne Streben, zwischen denen es nur noch runter ins Gleisbett ging, und pinkelte vom Zug, natürlich mit einer Zigarette im Mundwinkel.
Der Zug zischte. »Luft ist drauf!«, rief Ricardo.
»Motherfucker«, sagte Tuck, vollführte einen kleinen Tanzschritt und ließ sich wieder mit den Füßen zuerst in das Loch gleiten, just in dem Moment, als der Zug bockend und lärmend einen halben Meter nach vorne sprang. Ein paar Sekunden eher, und es hätte Tuck vom Waggon gehauen.
»Elegant, aber knapp!«, rief ich.
Tuck lachte schallend: »Ich kenn mich mit der Zugzeit aus, Scheißkerl!«
Langsam und in allen Gelenken stöhnend, nahm der Zug wieder Fahrt auf.
»Hey, Ricardo«, rief Tuck. »Schnell, wirf mir einen Joint rüber!«
Sich selbst zündete Ricardo die dritte Tüte an, rauchte. Ab und zu schaute er mich an und reckte den Daumen in die Höhe. Die meiste Zeit ließ er seinen Blick aber einfach in die Weite der Landschaft schweifen. Das Grün des Waldes, das Blau des Flusses und die immer heller strahlende Sonne.
Ein Hippie war er einst, wollte die Welt verändern. Ist heute noch der festen Überzeugung, dass jemand Kennedy umgebracht hat, weil der gegen den Vietnamkrieg war. Die USA sollten ihre Nase nicht weltweit in Dinge stecken, die sie nichts angehen, nicht überall lauthals Demokratie einführen wollen, während im eigenen Land die Kacke am Dampfen ist. Ricardo träumt von einem Stück Land, mitten im Nirgendwo. Am besten das Haus in den Boden gegraben, damit man den Besitzer und das Grundstück auch mit einem Hubschrauberüberflug nicht ausfindig machen kann. Owned by noone, free as a bird. Keinem untertan und frei wie ein Vogel. Mit Aaron auf ein paar Züge springen und hoffen, dass der eines Tages seinen Vater als König beerben und die jüngere Hobogemeinde so wieder den Weg nach Britt finden wird. Wie Tuck und so viele andere Hobos auch hasst Ricardo die Regierung, aber er liebt dieses Land. Sie alle sehnen sich nach dem Amerika, wie es mal war, bevor die Zäune hochgingen und die Büffelherden verschwanden und stattdessen in jedem Ort das Gesetz auftauchte und die gottverdammte Steuerbehörde.
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Leserpost
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Marcel on 6. März 2019
wunderschön geschriebener Beitrag. Danke. Mach weiter so und weiterhin auch viel Glück und Erfolg mit deinem Blog :)
Wünsche dir noch viele tolle Momente… Gruß aus Berlin, Marcel
Vivien on 22. Mai 2019
Kann man noch viel mehr sagen außer das es beeindruckend ist? Ich weis gar nicht wirklich was ich schreiben soll weil einfach alles an diesem Beitrag passt, und toll ist. Großes Kompliment für diese Reise!