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The Travel Episodes

 

 

Kasachstan

Die Fischodyssee

Eine kleine Geschichte von einem Ort namens Balkhash
Von Rebecca Himmerich

 

Wir können kein russisch. Das ist eigentlich kein Problem, in unserem Alltag. Irgendwo in der Steppe von Kasachstan scheinen wir unseren Alltag jedoch verloren zu haben. Mit einer Freundin zusammen reise ich an einen Ort, den uns niemand empfohlen hat.

Auf unseren Tickets steht Saryschagan. Von dort aus wollen wir mit dem Taxi weiter zu einem Ort namens Balkhash. Auf den Tickets steht leider nicht, was wir da wollen. Und dass da wohl auch gar nichts zu wollen ist, wird uns klar, als unsere Mitreisenden im Zug uns so ansehen, als hätten wir ihnen gerade gesagt, dass wir in der größten Einöde Zentralasiens zum Fliegen fischen verabredet sind. „Was wollt ihr denn in Balkhash?“ fragt unser Schlafwagenabteil im Chor. Die Kleinen baumeln wie Fledermäuse von den obersten Betten und krächzen: „Da ist nichts! Da ist nichts!“.

Ehrlich gesagt, kann das gut sein. Wir haben einfach irgendetwas gebucht. In Kasachstan gibt es keine Namen wie Goa, San Francisco oder Seychellen, die einem sagen, man solle sie auf jeden Fall mal besuchen, wenn man nicht weit von ihnen entfernt ist. Dafür gibt es eben Balkhash. Nelly legt ihren Zeigefinger auf die Karte: „Doch, da ist etwas neben Balkhash,“, sagt sie, „und zwar ein See!“.

Mittlerweile geht die Sonne wieder auf. Um in Saryschagan morgens aus den Federn zu kommen, brauchst du keinen Wecker. In Saryschagan laufen die Menschen um fünf Uhr in der Früh mit zwei Meter großen Fischen umher und der reizende Geruch wird dazu führen, dass du freiwillig direkt aus dem Bett auf die Arbeit springst. Frühstück gespart. Ausser du bist alteingesessen und gehörst zu dieser seltsamen Sorte von Mensch, die sich so ein kleines Fischchen hinter die Kiemen schiebt, um sich danach eine zwei Meter lange Gräte wieder aus der Speiseröhre zu ziehen und dann alle anzugrinsen, die von dieser Kunst nichts verstehen.

Nelly und ich verlassen den Zug jedenfalls schneller als geplant. Wir haben die östliche Mitte von Kasachstan erreicht: Den Balkhash-See. 600 Kilometer südlich von Astana, ungefähr die gleiche Strecke nördlich von Kirgisistan gelegen, angrenzend an die „Hungersteppe“: Ein riesiges menschenleeres Wüstengebiet. Wir denken an die Worte unserer Airbnb Gastgeberin Leisat aus Astana: „There’s nothing, only step. And then there’s a lake. That’s all.“

Als wir um fünf Uhr morgens in Saryschagan aussteigen, werden wir Zeuge des großen Nichts, dass nicht nur Phantasien, sondern nun auch Kasachstan aufzufressen droht. Einfach nur nichts. Und zwar hunderte von Kilometern, in alle Richtungen. Trockenes Land. Kein Sand, kein Matsch. Ab und zu ein Grashalm. Und das einzige Tier, was hier lebt: Der Salzkrautbilch. Wer so heisst, hat keine Freunde. Der kann froh sein, dass er auch keine Feinde mehr hat, weil niemand sonst hier wohnt. Schlagartig wird uns klar, dass wir vielleicht doch noch etwas von dem Monsterfisch im Zug hätten essen sollen, bevor wir elendig in einem seit Jahrhunderten nicht gegossenen Teil der Erde verrecken. Wir packen ein Stück trockenes Sandwich aus, gekauft in einer der Fastfoodburgen Astanas. Es schmeckt wie eine süße Erinnerung. Ab jetzt gibt‘s für uns nur noch Gräte und gebratene Kakerlake. Ab und zu sonntags gerösteten Salzkrautbilch, falls mal einer vorbei gehumpelt sein sollte.
 

 
Wir rauschen Richtung Balkhash, vor uns glänzt das trübe Gold der Wüste, ab und zu glitzert der See in der Ferne. Manchmal gibt es Salzlöcher, ab und zu steht ein Kamel am Straßenrand. Plastik scheint das Einzige, was hier wirklich gedeiht, was auch ohne Regen durch die Prärie wuchert und wächst. Am Horizont schließlich die Stadt, die den gleichen Namen trägt wie der See: Balkhash. Industrie gebaut in den Himmel. Nebelschwaden dringen aus Eisenrohren empor und streichen den Himmel allmählich im gleichen trockenen Grau, welches die Erde hier trägt. Kleine Häuser erscheinen links und rechts, erst vereinzelt, dann dichter werdend. Schließlich eine Brücke. Das Tor zu Balkhash. Vor der Brücke jeweils links und rechts zwei circa zehn Meter große, durch die Luft aufwärtshüpfende Fische aus Stein. Sie grinsen uns an. Nelly packt ihre Angel aus und schwingt sie aus dem Autofenster. Einer der beiden Fische beisst an. Da er zwar an der Angel kleben bleibt, aber nicht durch‘s Fenster passt, schleifen wir ihn hinter dem Auto her. Während er an dem Wurm lutscht, erklärt er uns schnaubend den Weg zum Hotel. Es liegt direkt neben der großen Bushaltestelle. Wir tragen unseren Fisch mit hinein.
Hotel Balkhash. Ein Sowjetbau. Im Foyer ein riesiger Altar aus angelegtem Teich, Plastikblumen und Fischfiguren. Während ich die Reisepässe aus der Tasche heraus krame, lässt Nelly unseren Fisch in den Foyerteich plumpsen. Er schnuppert kurz an den Plastikblumen und schläft fröhlich ein. Die Dame an der Rezeption ist unglaublich freundlich, ihr Lächeln verrät es, ihre Worte verstehen wir nicht. An den Wänden selbstgeknetete Landschaftskunst und Delphine, aufgehangen in Bilderrahmen. Daneben eine Cafeteria. Sechs schlichte Holztische in Reih und Glied, garniert mit Schulstühlen. Im vorderen Teil des Raumes eine Essensausgabe. Fenster ohne Gardinen, Rohputz. Niemand hier.

Nach dem ersten Streit zwischen Nelly und mir (zu wenig Schlaf, zu wenig Frühstück, zu viel von der Sprache, die wir nicht verstehen) endlich die Dusche. Ich fische das Handtuch vom Ständer, trockne mich ab. Nehme eine Geruchsprobe von meiner Haut und mir wird speiübel. Hier riecht’s nach Fisch. Und zwar bin ich das ganz klar. Das muss das Wasser gewesen sein. Die haben hier ihr einziges Markenzeichen sogar in der Dusche installiert. Ich mache kurz den Hahn noch mal an und überprüfe den Geruch. Keine Spur von süßlichem Teichgeruch, stattdessen riecht es nach Chlor. Mein Blick streift das soeben benutzte Handtuch, was nun auf dem Boden zusammengeknüllt liegt. Noch mal die Nase dran halten. Und sofort krampft sich mein Magen zusammen als hätte sich soeben eine ganze Makrelenzucht von meinem Dickdarm aus auf den Weg zum nächsten Dorfteich gemacht. Dieses ein Meter lange faserige Tuch stinkt wie ein im Rucksack vergessenes Heringsbrötchen. Mir kommt’s hoch. Meine Arme, meine Haare, meine Brüste, alles riecht nach dem verdammten Fisch. Ich laufe schreiend aus dem Bad. Nelly springt im Bett auf und ist bereits mit ihrem Kissen bewaffnet. Die Ehekrise scheint ungeahnte Ausmaße anzunehmen. „Fisch! Fisch!“, kreische ich, springe nackt vor ihr auf und ab und schüttele mich am ganzen Körper, während mir meine nassen Haare über den Augen hängen. Nelly reisst die Augen auf, während sich ihre Reisekumpanin vor ihr allmählich in einen Karpfen zu verwandeln scheint. Als mir die ersten Schuppen von den Augen fallen, glaubt sie mir endlich. Packt ihre Nase aus und riecht an ihrem eigenen Körper. Auch über Nelly ist der Fischgott gestolpert. „Fisch! Fisch!“ schreit sie wie am Spieß, wirft das Kissen in die Luft und ringt nach Atem, als hätte man sie soeben aus dem Wasser geangelt und servierfertig auf einem Teller drapiert. Der Balkhash-Voodoo hat sich über uns gelegt. Alles hier ist Fisch. Ab jetzt werden wir in langen schwarzen Striemen kacken, uns von Algen ernähren und uns zum Entspannen ins Aquarium legen.

Als wir feststellen, dass nicht nur die Handtücher und wir, sondern auch die Bettlaken, Bezüge und der Kühlschrank nach Fisch riechen, fühlen wir uns endlich angekommen in der Ferne. Integration ist das Stichwort. Streit gibt’s nicht mehr, wir laufen Flossen haltend durch die Stadt des Karpfens und fotografieren die Unterwasserwelt.

In einem kleinen Lokal genießen wir unser erstes traditionelles Essen in dieser Gegend: Plov, ein Reis, angereichert mit Gemüse und Öl. Dazu gibt es leckere Teigtaschen, die Manti heissen und Schaschlik. Ziemlich schnell wird klar, dass in Balkhash alles, was nicht Fisch ist, aus Fleisch ist. Unter und über dem Reis, zwischen dem Gemüse, in und hinter den Teigtaschen. Fleisch ist sowohl Hauptspeise als auch Beilage. Die Kombination aus Balkhash‘s kulinarischen Genüssen und Gerüchen führt uns am Tag unserer Ankunft schon auf den Weg zum Bahnhof, um schnellstmöglich ein Zugticket weiter Richtung Süden zu erwerben.

Ich stehe am Schalter des Bahnhofs. Die Frau vom Schalter schaut mich an. Bis hierhin funktioniert unsere Kommunikation noch. Dann wird es kritisch. Im Grunde genommen haben wir uns nichts zu sagen. Was noch dazu kommt, in Wahrheit hatten wir uns auch nie etwas zu sagen. Sozusagen erleben wir gerade das bescheuertste, was einem in einer Beziehung passieren kann. Nein, anders, noch bescheuerter: Eigentlich möchte ich ihr so viel sagen. Aber ich kann nicht. Mein Mund ist trocken und staubig von der Steppe, meine Gedanken gelähmt und der scheiss Google Translate geht einfach nicht ohne Internet. Nach fünf Minuten des Anschweigens wird mir immer bewusster, dass ich mich lieber schon einmal um einen Platz im Seniorenheim von Balkhash bemühen sollte. Ich werde hier nie mehr wegkommen. Krümmelkaffee und Fleischberge bis an mein Lebensende. Asche im Aquarium. Ewiges Leben im Korallenriff. Die Dame versteht nicht, was ich hier will. Meine Güte, ich bin am Bahnhof. Was ich will, ist hier weg, natürlich. Während wir es nun gerade mit Telepathie versuchen und uns immer tiefer in die Augen schauen, stupst mich von der Seite ein Mann an. Ist mir egal. Ich bin dran. Ich starre noch immer die Frau vom Schalter an. Ich kann jetzt ihre Augenfarbe, Haarstruktur und die Anzahl ihrer Lachfältchen auf Abruf aufsagen. Habe gerade angefangen, ihre Wimpern zu zählen, als der Mann mich plötzlich am Arm packt, vom Schalter wegzieht und mit mir die Treppe hochläuft. Jetzt ist es passiert. Entführt in Kasachstan, am hellichten Tage, an einem Bahnhof mitten in der Hungersteppe. Und ich höre jetzt schon die Verwandten an meinem Grabstein stehen: „Ja wenn man auch nach Kasachstan reist…!“. Was wird dieser Mann jetzt tun? Mir einen Fisch in den Mund stopfen? Mir danach alle Gräten brechen? Doch er grinst nur und zieht sein Handy aus der Tasche. Google Translate. Hier oben gibt’s Internet. Und noch einen weiteren Schalter. Doch ich scheiss auf die moderne Technik. Leute, ich komm auch so hier weg! W-Lan, pah! In Indien hab ich das auch immer ohne geschafft. Kinder, das waren noch Zeiten. Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen, da gab es noch kein mobiles Internet und Fahrscheine wurden noch in Bananenschalen geritzt!

Ich reiss mir ein Blatt Papier aus meinem Buch und fange an zu malen. Einen Zug. So richtig mit Lokomotive und Dampf. Zwei Strichmännchen. Zwei Tickets. Samarkand. Ich bin gerade dabei, noch mal den letzten Feinschliff zu machen, um das Gemälde kurz danach einen Arm weit von mir weg zu halten und mit zugekniffenem Auge seinen Wert einzuschätzen. Eventuell kann man es dem Innenarchitekten des Foyers im Hotel Balkhash verkaufen und zwischen den Knetdelphinen und dem Plastikteich an der Wand aufhängen. Titel: „Wat is dat schönste an Balkhash? Dat Ticket nach Samarkand.“ Um ein bisschen nordrhein-westfälische Lokalkunst in den Osten zu bringen. Plötzlich werde ich erneut in den Arm gekniffen. Diesmal von einer jungen Frau: „Hello madame. Can I help you?“ Ich fall um. Hier kann jemand englisch. Wer hat da ins Drehbuch gekritzelt? Langweilig. Was wird denn jetzt aus meinem Gemälde? Kurz bin ich sauer, doch das neugierige Glitzern in den Augen der jungen Kasachin und ihre Hilfsbereitschaft lassen mich dann doch mein Kunstwerk zerknüllen. In weniger als einer Minute werden uns für den morgigen Tag zwei Tickets von Saryschagan nach Samarkand, Usbekistan ausgestellt. Was mir einfach nicht klar war: Während ich die letzten zwanzig Minuten händeringend und sprachlos versucht habe, diese zwei Tickets zu organisieren, war der halbe Bahnhof damit beschäftigt, mir irgendwie zu helfen und eine Person aufzutreiben, die englisch sprechen kann. Ich bin berührt. Mit einem etwas größeren Gefolge schreiten wir wieder nach unten, wo Nelly und der Taxifahrer auf mich warten. Die junge Frau fragt uns, ob sie uns weiterhin helfen kann. Nach einem Tag, der bis jetzt nur aus Fisch, Fleisch und Fragezeichen bestand, fühlt sich diese Frage plötzlich an wie Buttercremetorte. Nelly und ich können einfach nicht anders, als „Yes, please!“ zu sagen. Die Frau lächelt. Fragt, wohin wir wollen. Zum See. „No problem!“ Sie läuft mit uns zu einem Taxi. Der Taxifahrer ist ihr Vater. Dem erklärt sie kurz unser Anliegen, dann schmeisst sie ihre komplette Familie aus dem Wagen und besteht darauf, dass wir Platz nehmen. Wir sind peinlich berührt und lehnen das ab, aber sie macht uns mit freundlichem Lächeln klar, dass wir aus der Sache jetzt nicht mehr rauskommen. Als wir ihr Geld für die Fahrt geben möchten, lehnt sie vehement ab.

Am See steppt der Bär. Es reiht sich Liege an Liege, Hüpfburg an Hüpfburg, Sonnenschirme neben Töpfen mit Plov, Kinder neben Bergen an aufblasbarem Chinaplastik. Nelly und ich springen in das trübe Wasser, tauchen. Und ohne es zu merken, sind wir genau in diesem Moment erst so richtig angekommen. Genau hier, mitten in Kasachstan, mitten in der Steppe. Hier, wo uns im Grunde keiner mehr versteht und trotzdem noch nie jemand so sehr bemüht darum war, uns doch zu verstehen.

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Rebecca Himmerich

Rebecca Himmerich entdeckte in Indien ihre Faszination für bunte Kulturen und ihre Leidenschaft, darüber zu schreiben. Seither vermeidet sie es, Räucherstäbchen anzuzünden oder an Ingwer zu riechen, da sie sonst augenblicklich von Flashbacks heimgesucht wird und ihr Fernweh sie zum implodieren bringt. Manchmal findet sie es aber auch ganz schön, zu Hause zu bleiben, dort spielt sie E-Bass und ist stolze Hüterin einiger Topfpflanzen, die sich schamlos weiter vermehren.

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