Pilgern
Übers Ziel hinaus
Von Julia Hagemann
Das Militärfahrzeug holpert über den löchrigen Feldweg. Mein Hintern hüpft auf der spärlich gepolsterten Sitzbank kreuz und quer. Ich klammere ich mich an eine Metallstange und stemme den Fuß gegen die Seitenwand. So sitze ich ein wenig stabiler, während der Toyota weiterbuckelt wie ein Rodeobulle. Rama Adadi, der junge Mann neben mir, ist den wilden Ritt gewohnt. Gelassen lehnt er die Schulter an die Rückseite der Fahrerkabine und stützt sich auf seine AK-101. Die kleine Schwester der AK-47 ist ein gängiges Sturmgewehr des kenianischen Militärs. Doch ist Rama kein Soldat, sondern Ranger. Und wir sind nicht im Kriegsgebiet, sondern im Nairobi Nationalpark, einem beliebten Ausflugsziel für Touristen aus aller Welt.
Trotz der unkomfortablen Fahrt kann ich mich nicht sattsehen an der Szenerie, die an uns vorbeizieht. Direkt neben der Buckelpiste grasen Steppenzebras. Finster dreinblickende Kaffernbüffel heben drohend den Kopf. Manchmal streckt eine Giraffe ihren langen Hals aus dem Gebüsch und äugt uns neugierig hinterher. Mit so vielen Wildtieren auf einmal hatte ich nicht gerechnet. Ich freue mich wie ein kleines Kind und möchte am liebsten Fotos knipsen, bis mein Zeigefinger abfällt. Doch so lange der Wagen in Bewegung ist, habe ich keine Chance. Jedes Mal muss ich dem Fahrer durch den Rückspiegel zuwinken, dass er anhalten soll. Das mache ich zwei-drei Mal. Dann habe ich ein schlechtes Gewissen.
Wir sind nicht auf Safari, wir haben es eilig. Bald wird es dunkel.
Nicht wegen der wilden Tiere bin ich in den Nationalpark gekommen, sondern wegen Menschen wie Rama. Die Ranger des Kenia Wildlife Service (KWS) sehen nicht nur aus wie Soldaten, sie wurden auch paramilitärisch ausgebildet. Naturschutz ist in Kenia lebensgefährlich. Im Nairobi Nationalpark beispielsweise laufen mehrere Millionen Euro frei durch die Gegend, festgewachsen auf der Schnauze von mehr als hundert Spitz- und Breitmaulnashörnern. Für Wilderer wäre das ein Eldorado. Von dem Horn, das asiatische Händler mit Gold aufwiegen, würde sie nur eine Gewehrkugel trennen, wären da nicht die Ranger des KWS. Wegen der Nashörner gilt der Nairobi Nationalpark als „High Risk Area“. Rama ist einer von rund 40 „Rhinomen“. „Nashornmänner“ – so nennen sich die Ranger in den umkämpften Nashorngebieten. Der deutsche Naturschutzbund (NABU), ein Partner des KWS, hat mich geschickt, um die Arbeit der Ranger für das Mitgliedermagazin zu dokumentieren.
Ramas Blick ist starr in die Ferne gerichtet. Irgendwie passt die ernste Miene nicht zu seinen jugendlich wirkenden Zügen. Vielleicht ist dieser abgeklärte Gesichtsausdruck das Resultat der harten Ausbildung, vielleicht verbirgt sich auch ein wenig Schüchternheit dahinter. Ich überlege, wie ich am besten das Eis brechen könnte. Doch Rama kommt mir zuvor. Ohne mich anzusehen, deutet er ins Freie. „Look, a lion“, ruft er in gebrochenem Englisch. Meine Augen folgen seinem Zeigefinger. Das Erste, was ich sehe, ist das blutige Bein eines Zebras. Direkt neben der Straße ragt es aus dem hohen Gras der Savanne. Nur wenige Meter dahinter kauert die Löwin. Sie sieht uns mit müden Augen an. Ihr Maul steht offen. Sie hechelt. Vielleicht macht ihr die Hitze zu schaffen, vielleicht auch die üppige Mahlzeit. „Lions are very dangerous“, mahnt ein Ranger namens Eduard. Er erklärt, dass es gelegentlich vorkommt, dass Löwen Menschen angreifen. Und sobald sie einmal das leckere, salzige Menschenfleisch gekostet haben, wollen sie nichts anderes mehr. Sie werden zu „Man-Eatern“.
„Ammenmärchen“, denke ich, „…oder vielleicht doch nicht?“
Als wir unser Ziel erreichen, senkt sich die Sonne bereits über der Savanne. „Romeo 11“ ist Militärjargon für das Camp R11. Das „R“ steht für „Rhino“, also Nashorn. Dort warten bereits vier andere Ranger. Mein Fotograf und ich klettern über die Bordwand des Landcruisers, der danach im Sonnenuntergang verschwindet. Etwas verlassen stehen wir beide vor den Männern im Flecktarn. Sie wissen nicht so recht, was sie mit uns anfangen sollen. Aus der Kommandozentrale hatten sie den Befehl erhalten, heute Abend Zivilisten zu bewirten. Wie beim Militär hält man sich auch beim KWS nicht lange mit Erklärungen auf.
Die Ranger sehen uns mit strengen, misstrauischen Blicken an. Mit Journalisten hatten sie wohl bisher kaum zu tun. Mein Fotograf rettet die Situation. David Kariuki ist Kenianer und ein ziemlich pfiffiger dazu. Der 29-Jährige ist in Nairobis Elendsviertel Mathare aufgewachsen und hat sich mit viel Willenskraft und einem unglaublich sonnigen Gemüt aus dem Slum gekämpft. Mittlerweile ist er einer der gefragtesten Künstler Nairobis. Obwohl ich ihn erst seit ein paar Tagen kenne, habe ich das Gefühl, dass ich mich auf ihn verlassen kann. Auch David hat die angespannte Atmosphäre bemerkt und erklärt mit ein paar Sätzen auf Kisuaheli unser Anliegen. Alles in Ordnung. Die Haltung der Männer entspannt sich. Wir schütteln Hände und machen uns an die Arbeit.
Mucksmäuschenstill, mit flachen, bedächtigen Schritten pirschen die Ranger durch das Buschland, die Waffen immer fest umklammert, immer alarmbereit. Wir begleiten sie ein Stück weit auf ihrer „Last-Light-Patrol“, der täglichen Abendpatrouille. „Aber nicht zu weit“ hieß es in der Kommandozentrale, denn solche Patrouillen seien äußerst gefährlich, nicht unbedingt wegen der Wilderer – der Nairobi Nationalpark gilt seit einigen Jahren als relativ einbruchssicher – aber wegen den Wildtieren. Hinter jedem Busch könnten sich Löwen, Büffel oder Nashörner verbergen. Da die Ranger sehr leise und ohne künstliches Licht unterwegs sind, passiert es häufig, dass sich Mensch und Tier unabsichtlich in die Quere kommen. Einer der „Rhinomen“ erzählt, wie er von einem Nashorn angegriffen wurde. Er und sein Kamerad seien versehentlich zwischen ein Muttertier und ihr Junges geraten. Während die Mutter ihn mit dem spitzen Horn attackierte, sei das Junge auf seinem Kammeraden herumgetrampelt. Glücklicherweise waren weitere Ranger in der Nähe und konnten die Nashörner mit Luftschüssen verscheuchen. Die beiden Männer sind mit schweren Prellungen davon gekommen.
Nicht jeder hat so viel Glück.
Jedes Jahr sterben zwei bis drei KWS-Ranger, zahlreiche mehr werden verletzt. Zu den Ursachen gehören je nach Region Schießereien mit Wilderern, Angriffe durch Wildtiere und Unfälle ausgelöst durch Naturgewalten wie Stürme, Sturzfluten oder Hochwasser. Vor allem Zusammenstöße mit Wildtieren verlangen den Rangern große Selbstbeherrschung ab. Das Leben eines Tieres, vor allem eines Nashorns, scheint hier mehr wert zu sein, als das eines Menschen. Eines zu erschießen, wenn auch aus Notwehr, wäre ein schwerwiegendes Vergehen. „Die Tiere wissen nicht, dass wir sie beschützen“, sagt einer der Männer. Böse sein könne man ihnen nicht.
„Das ist kein Beruf, sondern eine Berufung“, erklären mir die Ranger immer wieder, eine Berufung für die sie große Opfer bringen. Sie leben fernab ihrer Familien in kleinen Hütten oder Zelten in der Savanne, oft monatelang am Stück. Der einzige Luxus ist der Frischwassertank, der regelmäßig aufgefüllt wird. Geschlafen wird auf Feldbetten, geduscht wird mit Waschlappen und Eimer und gekocht wird an einer winzigen Feuerstelle. Nach der Patrouille sehen wir den Männern neugierig bei der Zubereitung des Abendessens zu. Wie jeden Tag, gibt es auch heute Ugali, den typisch afrikanischen Maisbrei. Der füllt zwar den Magen, aber für den Gaumen ist er mit Nullkommanull Eigengeschmack eine ziemliche Enttäuschung. Zur Feier des Tages bereiten die Jungs sogar eine Beilage zu. „Sukuma wiki“ nennt man das salzige Blattkohlgericht, das ungefähr so aussieht wie Spinat und auch ein bisschen so schmeckt.
„Kann man essen“, denke ich zufrieden, während ich das Maisbrei-Kohlgemisch mit den Fingern in den Mund stopfe. Besteck gibt es keines. Eine kleine Stimme in meinem Kopf meldet sich: „Du bist erst seit zwei Tagen in Afrika. Was wird wohl dein Magen dazu sagen?“ –„Ach, wird schon nix passieren“, erwidere ich und schlage meinem Gewissen gedanklich die Tür vor der Nase zu. Lieber konzentriere ich mich auf das, was um mich herum geschieht. Während wir beim Abendessen sitzen, trudeln am laufenden Band Funksprüche ein. Die anderen Romeo-Camps, insgesamt 27, geben ihre Nashorn-Sichtungen durch. Jedes Nashorn im Nairobi Nationalpark hat einen Namen und eine Nummer. Die Ranger müssen sie alle unterscheiden können und ein Protokollbuch führen. Eine besonders große Ehre kommt einem Ranger zu, der als Erster ein neugeborenes Nashorn entdeckt. Dann bekommt es seinen Namen.
Je länger wir sitzen, desto mehr verlagern sich die Gespräche vom Englischen ins Kisuaheli. Viele Weltenbummler kennen sicher dieses Gefühl der Isolation, wenn man die Landessprache nicht spricht und einfach nicht mehr mitreden kann. Einige Leute können recht locker mit solchen Situationen umgehen, einfach die Atmosphäre genießen und eigenen Gedankengängen nachhängen. Ich nicht. Mich macht das wahnsinnig. Schließlich bin ich Journalistin, Neugierde eine Berufskrankheit. „Curiosity kills the cat“, muss ich mir manchmal tadelnd anhören. „Knowing brings it back!“ Also bin ich unhöflich, unterbreche den Redefluss der anderen und frage meinen Fotografen:
„Worüber redet ihr?“
Schweigen in der ganzen Runde. David sieht mich mit großen Augen an. Dann sagt er ruhig und freundlich: „Über Literatur.“ Meint er das ernst? Ich hätte da eher an Weiber, Saufen oder ähnliche Männerthemen gedacht. „Du verarscht mich doch“, entgegne ich scherzhaft. „Nein, wirklich“, bestätigt er und erzählt mir die ganze Geschichte. Da alle in der Runde etwa im gleichen Alter sind, haben sie in der Schule die gleiche zeitgenössische Literatur durchgenommen. Das Buch, über das sie sich gerade unterhalten, ist in Kisuaheli geschrieben und handelt von einem Umweltaktivisten. Titel und Autor kann ich mir nicht merken, bin aber von den geistig anspruchsvollen Gesprächsthemen beeindruckt. Bildung hat in Kenia einen hohen Stellenwert, und zwar in allen sozialen Schichten. Das sollte ich auch in den kommenden Tagen noch lernen.
Mittlerweile ist es so dunkel geworden, dass man kaum die Hand vor Augen sieht. Zeit schlafen zu gehen. Ins Bett darf ich aber noch nicht, ich muss erst auf meinen Anstandswauwau warten. In der Kommandozentrale waren sie nämlich gar nicht begeistert von der Idee, eine Frau bei den Jungs im Busch übernachten zu lassen. „Was, wenn du Frauenprobleme bekommst“, hat der Corporal gesagt. „Ich bekomme keine Frauenprobleme“, hatte ich trotzig geantwortet. Doch der Corporal hatte nicht mit sich reden lassen. Eine Rangerin musste herbeordert werden. Eigentlich fand ich die Idee ganz gut, eine Frau zu interviewen, die diesen gefährlichen Beruf ausübt. Daher hatte ich mich nicht weiter gewehrt.
Nun warte ich gespannt auf den Geländewagen, der meine Anstandsdame liefern soll. Am Horizont tauchen Scheinwerferlichter auf. Gleichzeitig trifft bei uns im Camp ein Funkspruch ein. „The girl is coming“, übersetzt einer der Ranger und deutet in Richtung der beiden Lichtkegel, die immer größer und heller werden. Als das Fahrzeug anhält, springt eine Gestalt mit Sturmmaske und Maschinengewehr von der Ladefläche und kommt resolut zum Lager marschiert. Als sie vor mir steht, fallen mir die langen, bunt lackierten Fingernägel auf, die den Gewehrgriff umklammern. Der Stilmix lässt mich ein wenig grinsen. Dann beobachte ich, wie die bunten Fingernägel zunächst die Sturmmaske vom Kopf der Trägerin ziehen und sich mir dann zur Begrüßung entgegenstrecken. „Hi, mein Name ist Stella“, stellt sich die Rangerin vor. „Freut mich dich kennenzulernen“, entgegne ich. Zeit für Geplänkel ist allerdings kaum. Denn ich erfahre, dass wir in einem anderen Camp übernachten. Es geht zurück auf die Buckelpiste.
Beinahe seekrank kommen wir im Camp R8 an. Lust auf große Erklärungen haben wir nun keine mehr, schütteln unseren beiden neuen Gastgebern die Hände und lassen uns gleich die Schlafplätze zeigen. David muss ins Männerzelt, während ich und Stella ein eigenes bekommen. Entweder in Ermangelung von Isomatten oder aber in dem Glauben, Europäer können nicht auf dem Boden schlafen, zerrt Stella eine rosarote Matratze durch den Zelteingang. Ich kratze mich verlegen am Kopf und hebe eine Augenbraue. Stella wurschtelt weiter. Auf der rosa Matratze landen beide Militärschlafsäcke. Sie krabbelt in den einen und deutet auf den anderen. „Hier kannst du dich hinlegen“, sagt sie bestimmend. Meine andere Augenbraue hebt sich und ich denke ein Seufzendes: „Oh mei“.
Mit Kuscheln hatte ich heute nicht gerechnet.
Wieder einmal fällt mir wehmütig auf, dass Individualdistanz in verschiedenen Kulturen unterschiedlich bemessen wird. Um gemütlich neben einer fremden Person einzuschlafen, hätte ich mindestens einen halben Meter Abstand gebraucht.
Aber gut, ist wie es ist. Ich versuche das Beste aus der etwas beklemmenden Situation zu machen, ziehe das Handy aus der Hosentasche und zeige Stella ein paar Fotos von daheim. Sie tut es mir nach. Ich erfahre, dass sie eine Masai ist, sieben Geschwister hat und in einer kleinen Wohnung in Nairobi lebt. Heiraten will sie erst mal nicht, sondern lieber Kriminologie studieren. Ich frage, was ihre Familie davon hält, dass sie Rangerin geworden ist. „Die sind stolz auf mich“, entgegnet sie mit Nachdruck. Emanzipation ist in Kenia nichts Neues mehr. Schon seit mehreren Jahren gibt es Frauenquoten. Beim KWS sind knapp 16 Prozent des uniformierten Personals weiblich. Allerdings werden Frauen selten in „High Risk Areas“ eingesetzt. Stella ist heute nur wegen mir im Rhino-Revier. Ob es manchmal Probleme mit den männlichen Kollegen gibt? Stella lächelt und sagt: „Diese Männer sind wie meine Brüder.“
Rücken an Rücken schlafen wir ein. Nicht ganz. Stella schläft ein. Ich habe mich zwar mit der menschlichen Nähe abgefunden, doch stellen sich nun ganz andere Probleme ein. Meine inneren Organe haben das „Sukuma wiki“, das Kohlgericht vom Abendessen, bemerkt. „Mist“, denke ich und der Tanz beginnt. Mein Gewissen klopft von innen an die Tür und flüstert: „Hab‘ ich dir doch gesagt. Selber schuld.“ Stundenlang kämpfe ich mit meinem Körper in der Hoffnung bis zum Morgen durchzuhalten. Vergeblich. Alleine darf ich nachts nicht nach draußen. Zu gefährlich. Das hat Stella schon im Voraus klar gemacht. Mit Schweißperlen auf der Stirn, gebe ich auf. Es ist früh um drei. Ich wecke Stella. Kommentarlos springt sie auf, schnappt sich ihr Gewehr und wir stiefeln durch die Dunkelheit zum Plumpsklo. Es hat nur zwei Wände. Ich seufze. Das kostet mich jetzt richtig Überwindung. Die offenen Seiten der Installation liegen direkt vor dem hüfthohen Savannengras. Würde darin ein Löwe sitzen, würde ich ihn gar nicht sehen. Ich muss an die „Man-Eater“-Geschichten der Ranger denken. Und an die Szene aus Jurassic Park, als der Mann auf der Toilette vom T-Rex gefressen wird. So soll es bitte nicht mit mir zu Ende gehen. Trotz meiner Scham bin ich dankbar für die bewaffnete Eskorte.
Als ich am nächsten Morgen aus dem Zelt stolpere, fühle ich mich wie ein Zombie. Zu wenig Schlaf und die Aufregungen der letzten Nacht haben ihren Zoll gefordert. Umso mehr freue ich mich, als mir ein junger Mann mit breitem Lächeln eine dampfende Tasse Tee unter die Nase hält. Dankbar, als hätte mir jemand einen Rettungsring auf hoher See zugeworfen, nehme ich die Tasse und halte mich mit beiden Händen daran fest. Wir setzen uns auf eine notdürftig zusammengenagelte Bank und quatschen ein bisschen.
Benson Obong’o ist 24 Jahre alt und erst seit vier Jahren dabei. Er sei stolz darauf, beim Rhino-Team zu sein. Die Gefahr und die Unannehmlichkeiten würden ihm gar nichts ausmachen. Es gäbe Jobs beim Militär, die viel gefährlicher seien, scherzt er. „Gute Einstellung“, denke ich und frage nach seiner Familie. Ich erfahre, dass er frisch verheiratet ist. Seine Frau erwartet das erste Kind. Er hat sie schon seit fünf Monaten nicht mehr gesehen, aber sie telefonieren jeden Tag. „Wenn das Baby geboren wird, will ich unbedingt dabei sein“, sagt er mit leuchtenden Augen. Plötzlich verstehe ich, dass es nicht nur die Zukunft der bedrohten Tiere ist, für die die Ranger täglich ihr Leben aufs Spiel setzen, sondern auch die Zukunft ihrer Familien.
David kommt um die Ecke geschlendert, quietschfidel mit der Spiegelreflex in der Hand. Ich blinzle ihn ein wenig neidisch an. „Wie kann der um sechs Uhr früh schon so fit sein?!“ denke ich und rufe so enthusiastisch wie ich nur kann: „Guten Morgen!“ David entgegnet freundlich meinen Gruß und schnappt sich Stella und Benson für Porträtaufnahmen. Den anderen Ranger lässt er mir da für ein Interview. Als der junge Mann sich zur Begrüßung die Sturmmaske vom Kopf zieht, stockt mir der Atem. Der sieht verdammt gut aus. „Du bist zum Arbeiten hier, nicht zum Flirten“, tadle ich mich und versuche möglichst professionell zu wirken. Ich stelle mich vor und erkläre mein Anliegen. „Ok“, sagt der adrette Mann, „was willst du wissen?“
Kennedy Macharia ist 28 Jahre alt, verheiratet und hat zwei kleine Kinder, einen Jungen und ein Mädchen, fünf Jahre beziehungsweise drei Monate alt. Die Familie lebt auf einem Bauernhof viele Busstunden entfernt vom Nairobi Nationalpark. Er kommt nur alle paar Monate nachhause, je nachdem, ob sich eine Urlaubsvertretung für ihn findet. Einmal im Jahr hat er 30 Tage Urlaub. „Dann wartet meine Frau schon mit einer ganzen Liste voller Aufgaben für mich“, erzählt er mit einem nostalgischen Schmunzeln. Die Bildung seiner Kinder sei ihm sehr wichtig. Öffentliche Schulen in Kenia könne man sprichwörtlich in die Tonne klopfen. Die Klassen hätten teilweise mehr als hundert Schüler und die Lehrer würden ständig streiken. Es komme vor, dass Kinder in der vierten Klasse weder lesen noch schreiben können. Daher spart Kennedy schon seit Jahren, um seine Kinder auf eine Privatschule zu schicken. Ich frage, ob er schon Vorstellungen hat, was die beiden mal werden sollen, wenn sie groß sind. „Nein, ich werde das fördern, was sie gerne mögen“, entgegnet Kennedy weise. Mit dieser Einstellung ist er meiner Meinung nach schon weiter, als viele Eltern in Deutschland. Wieder einmal bin ich beeindruckt. Die Männer und Frauen des KWS scheinen gebildet und aufgeklärt, nicht roh oder grobschlächtig, wie man es sich bei diesem harten Leben im Busch vielleicht vorstellt. Ich strenge mich an, mit ihnen genauso respektvoll umzugehen wie sie mit mir. Ähnlich wie am Vorabend habe ich auch im Camp R8 das Gefühl, in guter Gesellschaft zu sein. Schade, dass uns nur noch wenige Stunden im Park bleiben. Stella muss schon jetzt zurück an ihre Dienststelle. Wir verabschieden uns mit einer kurzen Umarmung und tauschen Nummern aus. „Keep in touch“ heißt es dann, wie so oft, wenn man sich lange nicht mehr sehen wird.
Kennedy und Benson begleiten uns auf der Rückfahrt zur Kommandozentrale. Ich versuche, mich trotz des lauten Gerumpels noch ein wenig mit den beiden zu unterhalten und stelle Fragen zu den Nashörnern. „Breimaulnashörner sind leichtere Beute für Wilderer als Spitzmaulnashörner, weil sie auf Freiflächen grasen und weniger aggressiv sind“, erklärt Benson. In hellen Vollmondnächten, wenn das Risiko für Wilderei besonders groß ist, verbringen die Ranger ihre Nächte draußen bei den Nashörnern. „Ambush mission“ nennt sich das. „Ui, ist das nicht sehr gefährlich“, staune ich. „Wir müssen auf die Windrichtung achten“, sagt Kennedy. Er fügt hinzu: „Nashörner sehen sehr schlecht, haben dafür aber einen gut ausgeprägten Geruchssinn.“ Die KWS-Ranger werden nicht nur an der Waffe ausgebildet, sondern auch im Fach „Wildbiologie“.
Ob er ein Lieblingsnashorn habe, frage ich Kennedy. Er lacht. Das habe er tatsächlich. Nummer 69, ein Bulle namens Jesefa. Den möge er gerne, weil er zwar groß und stark ist, aber immer sehr freundlich. „So wie du“, denke ich und muss ein wenig grinsen. Ich nicke stumm und richte meinen Blick wieder nach draußen in die Savanne. Genauso wie am Vortag wimmelt es nur so von Büffeln, Antilopen und Zebras.
Plötzlich hält der Geländewagen an, mitten im Nirgendwo. Der Fahrer hat wohl etwas entdeckt, das David und ich auch sehen sollen. Wir schauen uns um. Auf einem Hügel ragen drei graue Berge aus dem hohen Gras, zwei große und ein ganz kleiner. Die beiden Ranger springen von der Ladefläche. Kennedy dreht sich zu mir um und winkt.
„Komm“, sagt er.
Mein Herz schlägt höher. Auf einer Safari durch den Nairobi Nationalpark ist es nicht erlaubt, das Fahrzeug zu verlassen. Dürfen wir wirklich zu Fuß zu den Nashörnern gehen?! David ist schon ausgestiegen und pirscht mit der Kamera in der Hand den Rangern hinterher. Ich will unbedingt mit. Vor lauter Hast und Aufregung purzle ich fast über die Seitenwand. Mit einigen Metern Sicherheitsabstand folgen wir Benson und Kennedy. Die beiden gehen mit ruhigen, bedächtigen Schritten auf die riesigen Breitmaulnashörner zu.
Wir sind jetzt nur etwa 50 Meter entfernt. Die Mutter hebt den Kopf und schaut uns mit kleinen aber wachen Augen an. Sie schlackert aufgeregt mit den Ohren, bleibt aber stehen. Sie scheint den Geruch ihrer Ranger zu erkennen. Ihr Baby drängt sich an ihre Seite. Der halbstarke Bulle daneben ist wahrscheinlich einer ihrer älteren Sprösslinge. Auf der Schnauze der Mutter thront ein eindrucksvolles Horn, das in natura viel größer aussieht als auf Bildern. Es stimmt mich traurig, dass es Menschen gibt, die sie gewissenlos dafür töten würden.
Ranger und Nashörner blicken sich schweigend an. „Die Tiere wissen nicht, dass wir sie beschützen“, hatte einer der Männer gesagt. Wahrscheinlich hat er recht. Dennoch scheint es ein unsichtbares Band zu geben zwischen „Rhinos“ und „Rhinomen“. In der Luft schwingt etwas, vor dem ich mich am liebsten verneigen würde.
Plötzlich wird mir klar, dass auch ich dankbar sein muss für die Opfer, die die KWS-Ranger und ihre Familien bringen, dafür, dass unsere Welt nicht noch eine Spezies für immer verliert.
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