Ich muss gestehen: Ich hab’s nicht so mit Magie. In der Regel glaube ich an das, was ich sehe. Bei der Weltmeisterschaft der großen Träumer lande ich mit dieser Abgeklärtheit mit hoher Wahrscheinlichkeit eher auf den hinteren Plätzen. Ich bin aber der Meinung, mein Leben mit Realitätsnähe und Bodenhaftung besser gestalten zu können als mit gefühlsduseligen Höhenflügen und dem Glauben an irgendwas zwischen Himmel und Erde.
Umso erstaunter bin ich, dass ich auf Little Corn plötzlich anfange, doch nach diesem Dazwischen zu suchen.
Was ist das hier für ein Ort?
Die Insel ist gerade mal drei Quadratkilometer groß, sie hat einen West- und einen Oststrand und einen schmalen Pfad, der ein Baseballfeld kreuzt. Über ihn gelangt man an den abgelegenen Nordstrand zum Yemaya, dem einzigen Luxusresort der Insel. Bei Derek’s Place schaukele ich den Tag über in der Hängematte, im Turned Turtle am Oststrand schlürfe ich Mango Shakes, im Wald und am Strand treffe ich einen Haufen faszinierender Menschen. Michael zum Beispiel ist deutscher Arzt, der gerade in Nicaragua überwintert, um hier ehrenamtlich als Doktor tätig zu sein. Zwischendurch frage ich mich immer wieder, was diese Insel mit mir macht. Ich bin fasziniert von diesem Ort, an dem so viel Energie zu strömen scheint. Ist das Little Corn selbst? Oder sind es die Menschen, die sich hier – teils mit Plan, teils naiv – selbst verwirklichen?
Ich bin seit drei Tagen hier, kenne fast jeden Winkel und habe inzwischen viele Bekannte, die ich aufgrund der Enge der Insel mehrmals täglich zum Schnacken treffe und die ich vor lauter Gefühlsduselei sogar als meine Freunde bezeichnen würde. Warum ist das so? Was macht es mit einem, so weit weg vom Rest der Welt zu sein? Sind die Menschen hier deshalb mehr Verbündete als sie es woanders wären?
Oder ist das einfach nur der Cuba Libre vor mir, der schon wieder hervorragend schmeckt?

Die beiden Tattoos auf Kellys Ringfingern symbolisieren ihre Eheringe. Sie hat sich vor kurzem selbst geheiratet.
Ist ja auch völlig wumpe, all diese Gedanken und Träumereien sind ab morgen hinfällig. Ich sitze im Tranquilo, es ist schon dunkel. Den Strand erahne ich nur durch das leise Rauschen der Wellen. Hinten in der Ecke turteln Clara und Roy, die Zwillinge sind auch da, sie stoßen gerade mit Norah von der anderen Inselseite an, Tauchtourist Frank aus Hamburg und Ohne-Grenzen-Arzt Michael unterhalten sich an der Bar, dahinter klackern die Bierflaschen von Marc und Paul aneinander. Es ist mein letzter Abend auf Little Corn, morgen früh werde ich die Insel verlassen und mich wohl noch einige Zeit fragen, wie es wäre, nicht so ein elender Realist (na gut, und Familienvater mit wartenden Kindern) zu sein.
Kelly aus Portland ist da anders. Sie sitzt mir gegenüber, wir kennen uns seit einer halben Stunde. Gerade hat der gesamte Laden für sie gesungen, weil Kelly heute ihren 40. Geburtstag feiert. Ihre Freudentränen über die spontane Einlage sind inzwischen wieder getrocknet. Wobei das mit der Freude doch eher unklar ist.
»Das ist für mich gerade eine wahnsinnig emotionale Zeit«, erzählt sie. »40 ist eine krasse Marke.«
»Na ja«, wiegele ich ab und gebe das Übliche von mir: »Das ist doch nur eine Zahl. 40 ist das neue 30, weißt du doch.«
»Nein, ist es nicht«, widerspricht Kelly. »40 ist die Hälfte von allem. Es ist ein Einschnitt, die 40 verlangt nach einem Resümee.«
»Und? Wie lautet deins?« Kelly zeigt mir ihre beiden Handrücken und deutet auf ihre Ringfinger. Auf ihnen prangen dezent zwei kleine Tattoos.
»Ich habe meine erste Lebenshälfte gerade mit einer Zeremonie besiegelt – vor einem Monat habe ich mich zu Hause in Portland selbst geheiratet.«
Ich mache große Augen. Dann entfährt mir ein »Wow!« Das kann zum Glück alles heißen.
Denn selbstverständlich bin ich mir ab sofort sicher, dass der Mensch vor mir gehörig einen an der Waffel hat.
Und doch finde ich in Kellys Erklärung etwas, das mich berührt.
»Weißt du, mir ist vor ein paar Monaten klar geworden, dass sich mein Leben nicht so entwickelt hat, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich habe keinen Mann, hatte nie die Gelegenheit, Kinder zu bekommen.« Kelly streicht über das Tattoo auf ihrem linken Ringfinger. »Ich habe gemerkt, dass die einzige Person, die mir immer treu geblieben ist, ich selbst bin. Deshalb habe ich mich einfach geheiratet.« Sie muss laut lachen, dann kullern erneut ein paar Tränen. Ich bin völlig hin- und hergerissen.
»Du hältst mich für bescheuert, oder?«
Jetzt erlaube ich mir, auch zu lachen, kann ihre Frage aber – anders als vermutet – doch nicht so klar beantworten. Sich selbst zu heiraten ist ungewöhnlich, ohne Zweifel. Von so etwas habe ich noch nie gehört. Ihre Geschichte, so wie sie sie erzählt, ist auch irgendwie traurig, deshalb weint gerade einer von uns. Aber diese pure Bestätigung sich selbst gegenüber, dieses klare Ja zu dem, der man ist, beeindruckt mich dennoch übermäßig stark. Versteht ihr, was ich mit Energie meine?
Um kurz nach zwei verabschiede ich mich von Kelly.
»Mein panga geht morgen früh.« Kelly hält mich am Arm fest.
»Hättest du was dagegen, wenn ich mitkomme?« sagt sie. »Ich glaube, ich möchte morgen auch abreisen.«
»Nein, gar nicht – ich freu mich. Bis morgen dann!«
* * *
Acht Stunden später stehe ich mit der noch immer wachen Kelly am Weststrand, rieche das erkaltete Lagerfeuer in ihrem Haar und staune über die spontanen und enormen Planänderungen zum Start in ihre zweite Lebenshälfte: »It’s magic, Christoph. This island is magic!«
Ich ahne, bei wem Kellys Nacht gestern zu Ende gegangen ist.
»Warst du bei den Zwillingen?« Kelly nickt.
»Du wirst es nicht glauben. Da oben am Leuchtturm ist ein Stück Land frei. Ich bin gelernte Therapeutin und hatte schon immer den Traum, ein kleines Gesundheitszentrum aufzumachen. Ein bisschen Wellness, ein bisschen Medizin. Little Corn ist der perfekte Ort dafür. Morgen treffe ich mich mit dem Mayor und dem Landbesitzer, dann wollen wir über alles sprechen.« Sie sagt das, ohne Luft zu holen.
»Warte, warte, warte«, werfe ich ein. »Das hat sich alles in den letzten acht Stunden ergeben?« Kelly nickt erneut und sieht sehr glücklich dabei aus.
»Ich hab’s dir doch gesagt. Letzte Nacht hat mein Leben verändert.«

Ein letztes Mal am kleinen Pier
Am Pier wartet das panga auf die Abfahrt. Ich nehme Kelly ein letztes Mal fest in den Arm, wünsche ihr alles Gute für ihre Pläne, wohin auch immer sie sie führen werden. Vielleicht bleibt sie ja wirklich auf Little Corn, vielleicht schläft sie sich aber auch einfach nur mal richtig aus. Jedenfalls bin ich inzwischen in der Lage, mich doch festzulegen: Kelly hat einen an der Waffel – und zwar so richtig! Ein bisschen was würde ich gerne davon abhaben, denke ich noch. Dann legt die blaue Nussschale ab und trägt mich weg von diesem magischen Ort.
* * *
Leserpost
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Alex Sefrin on 23. Oktober 2016
Lange musste man warten, um mal wieder was von Dir zu hören und dann so was!!!
Danke Christoph für diese wunderbar Episode!
Nach Nicaragua hat es mich bisher noch nie gezogen, aber ich glaube, ich muss nach Little Corn, unbedingt.
Christoph on 25. Oktober 2016
Vielen Dank, Alex!
Joshua Pfeil on 25. Dezember 2017
Ich bin sprachlos. Bin durch das ständige Rumstöbern auf deine Seite gefunden und konnte mir diese Reise nach Little Vorn nicht entgehen lassen. Nicht nur super geschrieben, sondern auch mit dem Design, Bildern und die Emotionen die rüber kommen einfach nur klasse! Vielen lieben Dank für die Inspirationen… :)
Liebe Grüße,
Joshua.
christian on 10. Mai 2018
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Adrar Travel on 18. Mai 2021
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Polina Kazymyrivna Ivanchenko on 22. Juli 2021
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