Wir frühstücken auf der Picknickdecke und waschen anschließend im Fluss den Schlaf aus den Augen. Heute haben wir ein Ziel: Das Nordkap! Europas nördlichster befahrbarer Punkt. Gute 3000 Kilometer, die uns dort von zu Hause trennen.
Auf der Strecke legen wir wie gewohnt eine kurze Rast ein. Es öffnet sich die Tür des Dicken und Matteo zeigt mit seinem kleinen Mittelfinger in die Ferne. Es wäre langsam an der Zeit zu lernen, dass er den Zeigefinger benutzt, denke ich. Doch in diesem Moment ist alles egal. Der Windelpupser dreht durch vor Glück. Er hat eine grasende Rentierherde entdeckt.
Das Nordkap
Endstation. Ich quatsche mit dem Typen im Pförtnerhäuschen. Hinter der Schranke versteckt sich der eiserne Globus auf einer massiven Anhöhe, ummantelt von einer dichten Wolke. Ein Globus, den zu sehen 30 € pro Person verlangt wird. Babys kostenlos. „Vielen lieben Dank!“, winke ich freundlich ab. Und kehre zum Dicken zurück. Leider ist die Pforte 24 Stunden lang besetzt und man kommt nicht für einen kurzen Augenblick kostengünstig durch. Und dabei ist das noch nicht einmal der nördlichste Punkt. Eine frisch geteerte breite Straße, die in einer Sackgasse endet. Und irgendjemand hat irgendwann mal festgelegt, dass dies nun der nördlichste Punkt Europas sei.
Es gibt aber das wahre Nordkap! Und dieses verlangt einiges ab.
7 Kilometer vom falschen Nordkap entfernt erreichen wir den Parkplatz.
Die Uhr zeigt 16 Uhr und die Sonne hat sich schon längst versteckt. Die Taschen sind gepackt, wir sind warm angezogen und voller Motivation! Von den aufziehenden tief hängenden Wolken lassen wir uns nicht beeindrucken. Eine alte Infotafel auf dem Parkplatz weist auf eine 18 Kilometer lange Strecke hin. Schaffen wir schon!

Matteo muss eigentlich schlafen, doch er gibt keine Ruhe, als würde er eine gewisse Vorahnung haben. Erst nach ‘ner ordentlichen Portion Snacks und Kinderliedern in Dauerschleife schließt er seine Äuglein, sanft in der Kraxe hin und herschaukelnd. Wir haben ein Viertel der Strecke geschafft. Das leichteste Viertel.
Euphorisch laufen wir weiter, drehen Videos, machen Fotos, freuen uns auf das Ziel aller Ziele. 2100 km weiter nördlich ist schon der Nordpol. Fast zum Greifen nahe. Nach zweieinhalb Stunden Fußmarsch sehen wir das offene Meer vor uns. „Da geht’s nicht mehr weiter, das muss es sein!“, denken wir naiv. Der Weg nimmt kein Ende. Es wird immer frischer.
Zu unserer Rechten sehen wir die Schiefer-Klippen aus dem Meer ragen, umschlungen von einer dichten Wolke. Doch wo versteckt sich das echte Nordkap? Die Kälte durchdringt langsam unsere Kleidung. Umdrehen oder weiter? In der felsigen Einöde ist weit und breit niemand zu sehen, der uns die Entscheidung abnehmen könnte.

Der Kleine schläft immer noch und unser Stolz übernimmt die Entscheidung. Wir wandern noch eine volle Stunde entlang der rauen und felsigen Küste in Richtung Norden. Ein eisiger Wind weht uns entgegen.
Dann endlich, der langersehnte, nördlichste Punkt.Was für ein Moment! Wir stehen tatsächlich am nördlichsten Punkt Europas und schmieden Pläne, wann man denn mal den südlichsten Punkt Europas bereisen könnte. Wir freuen uns, machen Faxen, tanzen, kreischen euphorisch. Wir haben es geschafft! Zu euphorisch. Das Baby wird wach. Ups. Noch ist er gut gelaunt, doch aus Erfahrung wissen wir: Das ändert sich bei Hunger und Kälte schlagartig. Also nichts wie los! Wir müssen den Rückweg antreten!
Im Schweinsgalopp geht es zurück. Das Baby freut sich. Immer, wenn es in der Trage rappelt, bedeutet das Action!
Der Papa lobt das Kind in den höchsten Tönen. Daraufhin ist alles vorbei: Little Bigfoot kräht aus voller Kehle. Pause! Raus mit dem Kleinen, Körperwärme, Kekse, Wasser, Warmkuscheln. Die Wangen sind rot, die Händchen und Füße trotz Wolle eiskalt. Wir bekommen ein schlechtes Gewissen.
Trotz Gebrüll geht es zurück in die Kraxe und nichts wie in Richtung Parkplatz. Eine dicke Suppe tief hängender Wolken ziehen auf. Nun hat sie auch uns dicht umschlungen.
Liebe Leser, ihr ahnt es schon: Wir sind dort angekommen, wo diese Geschichte begann. Bei den blau angelaufenen Lippen, den rotgeweinten Augen und all den verdammten Hügeln, die niemals den Bick freigeben wollen auf unser Ziel. Den Parkplatz mit unserem Zuhause. Haben wir uns verirrt?
Wie konnten wir nur! Der geteerte Platz und die Gesellschaft anderer Touristen hätten es auch getan!
60 Euro!? Was sind schon 60 Euro?
Dann endlich: Unser Dicker! Gute 500 Meter trennen uns von ihm. „Wir sind gleich da!“, so sprechen wir uns Mut zu. Vor Erschöpfung ist der Kleine eingeschlafen.
Wir fahren los, ziehen den Kurzen aus – Körperwärme, Wärmeflasche, Kuscheln, Küssen. Wir kommen fast um vor schlechtem Gewissen. Eine absolute Ausnahmesituation für alle. Das Thermometer zeigt 5 Grad Celsius an.
Das erste Mal fühlen wir uns von Sätzen wie „Denkt ihr wirklich, dass ihr das mit dem Baby machen könnt?“ und „Ganz schön mutig, oder gar verantwortungslos!“ eingeholt. Heute Abend wird auf das Nordkap nicht mit Champagner oder ähnlichem angestoßen, wie es die Tradition verlangt. Wir halten einander einfach im Arm und weinen vor Glück. Wir haben es geschafft. Hätte auch anders enden können. Nachdenklich und körperlich total am Ende fallen wir in einen unruhigen Schlaf.

Am nächsten Morgen weckt der Kurze uns mit fröhlichem Gelächter und zieht an unseren Haaren und Nasen. Er scheint sich an nichts mehr zu erinnern. Wir beobachten ihn übervorsichtig, das schlechte Gewissen immer noch im Bauch. Nichts – er ist ganz der Alte. Nicht mal die Nase läuft!
Wir sind dankbarer denn je. Bei einem starken Kaffee und Rührei lassen wir den gestrigen Tag Revue passieren – unvergesslich!
* * *
Leserpost
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Geertje on 14. Mai 2016
Ganz so ähnlich und wie bei uns, als 2008 die Geschichte der nordicfamily in der Elternzeit begann. Mit ähnlichen Höhen und Tiefen. Danke für die schönen Bilder! Unsere gibt es in dem Buch „Nördlich von hier…“ und spätere Norderfahrungen in unserem Blog. Wir wünschen Euch auch mit zwei Kindern so großartige Reiseerfahrungen! Eure Nordicfamily
Renartis on 19. Mai 2016
Danke!
Das schaut wirklich interessant aus! Werden auf jeden Fall mal rein schauen. Sind offen für neue Ideen und Inspirationen, gerade was den Norden betrifft. Wird wohl hoffentlich noch einige Touren da hin geben bei uns!
Eure Renartis
Mandy // Movin'n'Groovin on 15. Mai 2016
Wow, was für eine schöne Story! Das sieht alles sehr schön und beeindruckend aus, und euer kleiner Pupser hatte offenbar eine sehr spezielle und spannende Zeit mit euch! :) Ich werde im Sommer auch im Van in Skandinavien unterwegs sein – und hoffe auch, bis zum Nordkap zu kommen!
Renartis on 19. Mai 2016
Hey Mandy!
Vielen Dank! Wir wünschen dir eine gute Reise in den hohen Norden! Und grüß die Samen ganz lieb von uns! ;-)
Nessa on 17. Mai 2016
Unglaublich gut. Authentisch und wunderschön.
Werde ich mir noch öfter anschauen.
Renartis on 19. Mai 2016
Liebe Nessa,
vielen Dank für dein positives Feedback!
Die Lehn’s
Romina & Philipp on 16. April 2017
Wir haben Tränen gelacht!!!! Was für ein unglaublich toller Reisebericht! Der beste, den wir je gelesen haben!
In 2,5 Monaten geht’s auch für uns mit VW-Bus & Baby (dann 8 Monate alt) nach Skandinavien. Auch wir planen 2 Monate intensive Elternzeit. Euer Bericht hat uns große Vorfreude, aber auch etwas flauen Magen beschert. Vielen lieben Dank für eure Eindrücke, Gedanken, Sorgen und Freuden! Toll, dass es Menschen wie euch gibt, die sich so eine Reise trauen, sich die Mühe machen alles aufzuschreiben und die solch ein unglaubliches Schreibtalent haben!
Ganz liebe Grüße aus Bayern
Romina, Philipp und Luca
Daniel on 2. Januar 2018
Sehr schöner Bericht! Da bekommt man direkt Fernweh. Eine praktische Frage hätte ich noch, wie genau habt ihr das mit dem Schlafplatz für den kleinen in Bus gelöst?
Oliver on 11. Januar 2019
Hallo zusammen, mit sehr großem Interesse habe ich eure Erfahrungen zur Elternzeit in Norwegen gelesen. Wir planen auch einen solchen Trip dieses Jahr mit unserem Kleinen zu unternehmen.
Wie habt ihr denn die Schlafsituation im Cali gelöst? Konntet ihr zu dritt oben schlafen?
Wie lief es bei schlechtem Wetter?
Vom Platzangebot her habt ihr alles soweit mitbekommen? Oder musstet ihr jeden Tag Tetris spielen?
Viele Grüße,
Oliver