Ich muss gestehen: Es gab eine Zeit, da wusste ich nicht, dass es die Salomonen gibt. Und diese Zeit ist noch gar nicht so lange her. Das ist natürlich peinlich, ich weiß, aber das Land ist ja auch wirklich ausgesprochen klein. Und abgelegen. Und still. Das soll keine Ausrede sein. Es ist eine Liebeserklärung. Ich bin noch nicht mal aus dem Flugzeug gestiegen, und ich bin diesem Ort schon verfallen. Diesem Flecken Erde, nein, diesen unendlich vielen Fleckchen Erde, die da inmitten des pazifischen Nirgendwos verloren aus dem Wasser ragen. Und die, wenn man genau hinschaut, manchmal sogar schon untergegangen sind. „Shortly we’ll be arriving at Honiara Airport“ krächzt es durch den Lautsprecher. Ich schnalle mich an und habe das Gefühl, gerade noch rechtzeitig gekommen zu sein.
So dringlich scheint die Lage dann aber doch nicht zu sein. Zumindest nicht am Flughafen, dort bewegt sich alles langsam und ohne Hast: Der Ventilator an der hölzernen Decke der Ankunftshalle, das quietschende Gepäcksband, der vor sich hin summende Zollbeamte. Ich spüre, dass dieses Land nicht unmittelbar gefährdet ist, denn mit solch zeitlupenartiger Geschwindigkeit bewegt sich nur, wer sich absolut sicher ist, dass es ein Morgen gibt. Dass am nächsten Tag die Welt noch steht und das Land nicht untergegangen ist. Und dass man Dinge deshalb nicht überstürzen muss, sondern mit aller Ruhe, Bedacht und Gemächlichkeit angehen kann.
„Sicherheit durch Gemächlichkeit“,
der Gedanke gefällt mir.
Während ich mich sicher und gemächlich fühle und mit Ruhe und Bedacht auf meinen Rucksack warte, den das quietschende Gepäcksband bisher noch nicht zu Tage gefördert hat, und dabei leicht schwitze, weil sich der Ventilator so langsam dreht, dass man seine Rotorblätter einzeln erkennen kann, schaue ich nach draußen. Tropische Mittagshitze flirrt vom Asphalt der Landebahn, es ist ruhig, nichts bewegt sich. Nicht die weiß-grüne Boeing, die verrostet und ihrer Turbinen entledigt am Rand des Flugfeldes lehnt. Nicht das Feuerwehrauto, das ohne Reifen gegenüber im Gras liegt und aus dessen Inneren ein Busch wächst. Die Natur hat sich dieses Fahrzeug von allen Seiten gekrallt, und sollte es hier mal irgendwo brennen, dann lässt sie dieses Perpetuum Mobile aus Rost und Schlingpflanzen sicher nicht mehr los. Mein Gefühl von Sicherheit schwindet. Zuviel Gemächlichkeit ist wahrscheinlich auch nicht gut, denke ich mir, während ich wieder auf das Gepäcksband starre und schwitzend auf mein Gepäck warte.
Irgendwann aber kommt es, und irgendwann kommt auch der Hotelbus, der mich und zwei australische Anzugträger in die Stadt bringt. Der jüngere der beiden hat einen sehr roten Kopf, und ich bin mir nicht ganz sicher, ob es wegen der eng gebundenen Krawatte ist oder weil er so laut mit seinem Kollegen redet, dass jeder im Bus mithören kann. „Ich war schon mal hier, damals, wegen dem AN-Deal.“ „Ich weiß. Und, wie war es?“ „Ganz ok. Aber es gibt im ganzen Land keine Ampel, stell dir das mal vor.“ „Wahnsinn.“ „Und das Beste ist: Es gab mal eine, in den Neunzigerjahren. Bevor sie die aufgestellt haben, haben sie die Bevölkerung monatelang vorbereitet: Rot heißt stehen bleiben, Grün heißt fahren. Mit Plakaten und Radiospots und allem drum und dran.“ „Und dann?“ „Und dann, als das Ding endlich aufgestellt war und rot geblinkt hat, sind alle stehen geblieben. Überall!“ „Wie, überall?“ „Überall Mann, Sie sind einfach überall stehen geblieben. Fußgänger, Autofahrer, egal wo sie gerade gestanden sind, sie sind einfach stehengeblieben. Nicht nur vor der Ampel, sondern auch zweihundert Meter weiter weg oder am Gehsteig oder was weiß ich wo.“ „Ha ha, abgefahren!“
„Danach haben sie die Ampel wieder abmontiert“.
Der ältere lacht jetzt noch lauter, und der jüngere rückt sich seine Krawatte zurecht und grinst. Ob die Geschichte wohl stimmt? Ich suche das Gesicht des Busfahrers im Rückspiegel, doch der konzentriert sich auf die Straße und lässt keine Reaktion erkennen. Während der ganzen Fahrt hoffe ich, doch irgendwo eine Ampel zu sehen oder vor einer stehen bleiben zu müssen, nur um mich dann laut räuspern oder gewichtig den Kopf schütteln oder irgendeinen Witz machen zu können, der mit Ampeln und roten Köpfen zu tun hat und den ich mir erst noch zu Ende überlegen muss. Aber so weit kommt es leider nicht, denn es gibt tatsächlich keine einzige Ampel in der Hauptstadt dieses Landes. Und um ehrlich zu sein, auch sonst nicht besonderes viel. Es gibt einen Markt, ein paar Geschäfte, ein paar Straßen. Insgesamt verfügt Honiara über den Charme eines kosovarischen Umspannwerks. Ich weiß, das klingt gemein, und ich fühle bei diesem Satz einen Krawattenknoten an meinem Hals, aber schon zwei Tage nach meiner Ankunft bin ich wieder weg. Habe ich meine Liebeserklärung zu früh ausgesprochen?
Nein, aber wahrscheinlich ist es so, wie in jeder Beziehung: Man muss den anderen akzeptieren, wie er ist.
In seiner Gesamtheit. Mit all seinen Mängeln. Es mag keine Ampeln geben auf den Salomonen und eine Hauptstadt, die es niemals zum UNESCO-Kulturerbe schaffen wird. Es mag Handyempfang nur geben, wenn man viel Glück hat und gutes Wetter und zusätzlich einen Berggipfel erklommen. Es mag ein Ort sein, an dem Telefonnummern nur fünf Ziffern haben. Aber wen kümmert das? Wer zur Hölle braucht eine Ampel, wenn es neunhundert Inseln gibt? Ich bin seit zwei Wochen im Land unterwegs, und ich schwöre: Ich habe in dieser Zeit nicht ein einziges Mal an eine Ampel gedacht. Ich habe an das Meer gedacht; an sein glasklares Wasser, an seine Korallen und Fische, die jeden Tauchgang zu einer psychedelischen Grenzerfahrung machen, an die unendlichen Schattierungen von Blau. Ich habe an den Wald gedacht; an seine dichte Vegetation, an die Geräusche, die aus seinem Inneren tönen wie aus einem riesigen, verwachsenen Subwoofer, an mächtige Baumriesen und Lianen, an die unendlichen Schattierungen von Grün. Und ich habe an Menschen gedacht; an ehrliche Augen und warmes Lachen, an die unendlichen Schattierungen von Herzlichkeit. Ich habe an vieles gedacht, aber eine Ampel war nicht dabei.
Vielleicht liegt das daran, dass Fortbewegungsmittel mit Rädern hier eher ein Nischendasein führen. Wer von A nach B will, der macht das mit dem Flugzeug oder mit dem Boot, denn zwischen A und B liegt mit ziemlicher Sicherheit keine Straße. Zwischen A und B liegt Dschungel oder Wasser, oder beides zugleich.

Es ist Freitagabend, und die letztwöchige Reise durch die Malaita Province steckt mir noch in allen Knochen. Stundenlange Bootsfahrten durch strömenden Regen, Fußmärsche durch dichten Wald, Flüge mit handgeschriebenen Tickets und handbekurbelten Tankfüllungen. Der östliche Teil des Landes ist rauh und touristisch unerschlossen, seine Erkundung eine logistische Herausforderung. Wer sie annimmt, wird belohnt, aber der hat sich danach auch ein paar Tage Entspannung verdient. Ein paar Tage am anderen Ende des Landes zum Beispiel, auf den postkarten-idyllischen Inseln der Western Pronvince. Ein paar Tage am Strand, im Wasser, vorm Bier, weit weg von allen Fragen, die mit A und B und ihrer Überbrückung zu tun haben. Doch mir gegenüber sitzt Paul, und Paul sagt Sätze wie: „Da musst du unbedingt hin!“, und „Transport ist kein Problem.“
Ich traue Paul, denn Paul ist ein lustiger Salomonese und er hat mir gerade ein Bier spendiert.
Außerdem ist er gewissermaßen vom Fach: Transport, aber vertikal. Paul ist Lifttechniker. Ich weiß nicht, ob ich schon erwähnt habe, dass es auf den Salomonen insgesamt zwei Lifte gibt. Und dass sich beide im selben Gebäude befinden. Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass Paul über relativ viel freie Zeit verfügt. Und über Ideen, wie ich die meine möglichst stress- und sinnvoll nutzen könnte. „Also, wenn du schon mal den ganzen Weg hierher gemacht hast, dann musst du die Kennedy-Insel sehen. Die ist ganz nah von hier. Und ich kenne jemanden, der dich morgen gratis dorthin mitnehmen kann.“ Also doch wieder die Sache mit dem A und dem B. A ist diesmal Gizo, die zweitgrößte Stadt im Westen des Landes und der Ort, an dem ich und Paul gerade Bier trinken. B ist eine Insel, die nur dreißig Minuten entfernt liegt und auf der angeblich mal ein amerikanischer Präsident gestrandet sein soll. Ich finde, dass sich das nach einem ziemlich interessanten B anhört und verwerfe meinen Plan, für ein paar Tage auf sämtliche B‘s zu verzichten.
Also sitze ich am nächsten Morgen am nassen Deck eines kleinen Fischerbootes, spüre den salzigen Fahrtwind im Gesicht und rufe Paul’s Freund Fragen zu seiner Familie, zur Fischerei, zur Politik zu. Als wir die Insel erreicht haben, weiß ich, dass sein ältester Sohn Probleme im Rechnen hat, dass derzeit Thunfisch-Saison ist und die gesamte Regierung ein korrupter Haufen. Aber wie ich jemals wieder von dieser Insel zurückkommen könnte, das weiß ich nicht. Und darüber denke ich im Moment auch nicht nach. Ich stehe knöcheltief im lauwarmen Wasser des Südpazifik, vor mir liegt eine winzige, korallenumsäumte Insel, und auf ihr stehen ein paar Palmen und ein Schild: John F. Kennedy war tatsächlich hier. Im Jahr 1943, als er noch nicht amerikanischer Praesident war, sondern Kommandant der US-Marine und mitten im Zweiten Krieg gegen die Japaner. Die hatten sein Schiff abgeschossen, und der 26-jährige Kennedy schwamm um sein Leben und auf diese Insel. Ich spüre sowas wie Ehrfurcht, während ich am Strand entlang gehe und mir vorstelle, dass auf demselben Boden, unter denselben Palmen dieses winzigen Eilandes der Mann herum wandelte, der wenig später das mächtigste Land der Erde regieren sollte. Es ist kurz vor Mittag, und ich habe das Gefühl, mit einem amerikanischen Präsidenten allein auf einer Insel zu sein.
Ein erhabenes Gefühl.
Gegen 13 Uhr habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, gegen 14 Uhr beginne ich mich mit ihm zu langweilen. Ich und John haben uns nicht besonders viel zu sagen, das wird mir jetzt klar. Schade eigentlich. Um 15 Uhr frage ich mich zum ersten Mal, wie ich wieder zurück in mein Hotel komme, und um 16 Uhr mache ich mir ernstlich Sorgen. Von den Fischerbooten, von denen Paul geredet hat, ist keine Spur zu sehen, und von Touristen sowieso nicht. Ich dachte, dass Kennedy hier sowas wie eine Attraktion sein wird, aber um die Anziehungskraft amerikanischer Präsidenten ist es dieser Tag wohl nicht so gut bestellt, und um den salomonesischen Tourismus anscheinend auch nicht. Ich sitze im Sand, starre in die Ferne und hoffe: Zuerst auf eine Mitfahrgelegenheit, später auf Hilfe, schließlich auf Rettung. Die Sonne wird langsam schwächer, aber ich fühle sie auf meinem Kopf. Und zusehends darin. „John, wie bist du damals eigentlich zurückgekommen?“ „Gute Frage, Daniel. Das war so: Ich saß verzweifelt am Strand und hatte die Hoffnung schon aufgegeben, da kamen plötzlich zwei Fischer vorbei. Der eine hieß Eroni und der andere Biuku, und sie haben mir das Leben gerettet.“ „Das nenne ich Glück, John. Ich wette, du warst den beiden ziemlich dankbar?“ „Das kannst du laut sagen, Dan. Ich darf doch Dan sagen?“ Ich nicke, und ich merke, dass ich mich schleunigst in den Schatten setzten sollte. „Diese Jungs haben mir den Arsch gerettet. Ihnen war egal, dass ich eine andere Hautfarbe hatte als sie, dass ich eine Sprache sprach, die sie nicht verstanden. Sie haben mir einfach den Arsch gerettet.“ Ich glaube, ich mag diesen Kerl. „Und John, was ist dann passiert?“ „Na ja, ich wurde Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Und zur Angelobungsparty hab ich die beiden ins Weiße Haus eingeladen.“ Sehr sympathisch der Mann, aber muss man ihm denn jedes Wort aus der Nase ziehen? „Und dann John?“. „Sie durften nicht kommen, die Politiker der Salomonen ließen sie nicht. Weil sie kein Englisch konnten. Sie meinten, die beiden würden sich und ihr Land blamieren.“
Ich höre ein leises Motorgeräusch in der Ferne.
Sollte das tatsächlich ein Boot sein? Ich laufe an den Strand und schwenke meine Arme, und wirklich: Ein Boot kommt auf mich zugefahren, und zehn Minuten später springe ich erleichtert hinein. Es sind zwei Fischer, und sie sprechen Englisch. Leider steht bei mir in naher Zukunft keine Angelobungsparty an, in ferner Zukunft wohl auch nicht. Als die beiden mich kurz nach Einbruch der Dunkelheit in Gizo absetzen, sehen sie aber, dass ich dankbar bin. Sie haben mir den Arsch gerettet. Nicht wegen einem Weltkrieg, sondern wegen selbstverschuldeter Dummheit. Ich fühle mich ein bisschen doof, als ich an diesem Abend im Hotelbett liege. Aber hey – ich habe einen Tag mit John F. Kennedy verbracht. Und ich glaube, wir haben uns ganz gut verstanden.

Man glaubt ja gemeinhin gern, dass man aus Fehlern lernt und klüger wird. Bei mir ist das im Moment leider übernhaupt nicht so, meine Lernkurve ist flach wie eine Salomonen-Insel. Antatt dem A-B-Dilemma fortan aus dem Weg zu gehen, sitze ich am nächsten Tag in einem Bus. Mangelnde Lernbereitschaft? Fehlender Intellekt? Sucht? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass das Ding, das hier als Bus bezeichnet wird, in Wirklichkeit die Ladefläche eines LKWs ist. Dass es hart und eng ist. Dass es keine Stoßdämpfer hat. Und dass es verdammt viel Spass macht. Wir fahren durch den Nachmittag und durch kleine Dörfer, immer dem Meer entlang von Gizo nach Saeraghi, und bei jedem Schlagloch hebt sich die gesamte Ladung: Zwanzig Passagiere, zehn Säcke voller Reis und Kochbananen, zwei Kisten mit Fisch, ein Huhn. Das Huhn gackert, die Kinder lachen, die Frauen teilen Früchte und die Männer Zigaretten. Selbstgebrannter Kokosnussschnaps und Geschichten machen die Runde, und ich glaube, ich könnte ewig so weiterfahren.
Gegenüber von mir sitzen fünf Frauen, eine von ihnen hält ein Baby im Arm. Die Frauen rufen sich Dinge zu und schütteln sich vor Gelächter, aber bei jedem Schlagloch halten sie für einen erschrockenen Moment inne und schauen besorgt auf das Kind. Doch das ist taff und hält der Straße jedesmal ein strahlendes Lachen entgegen, und die Mutter drückt ihm dann einen Kuss auf die Wange und die anderen Frauen lachen erleichtert.

Ich schaue in diese Gesichter, in denen sich Freude spiegelt und Sorge und immer Freundlichkeit, und ich frage mich, wie man eigentlich Angst haben kann vor anderen Menschen. Vor den Fremden. Und wer, zur Hölle, ist das überhaupt: Der Fremde? Ist das jemand, der eine andere Sprache spricht? Der eine andere Hautfarbe hat? Der ein anderes Rasiergel verwendet? Und warum fürchten wir uns davor? Ich halte meinen Kopf in den Fahrtwind, eine der Frauen lacht mir zu und macht dann das gleiche. Sie hat keine Angst vor dem Fremden, und das ist gut für mich, denn der Fremde bin ich. Ich bin weiß, ich trage komische Kleidung und spreche wie ein Idiot, aber das stört hier niemanden. An diesem Nachmittag, auf dieser Strasse, dieser Insel irgendwo inmitten des Pazifik, sind wir alle gleich. Wir sind Menschen, die sich über den Fahrtwind freuen und über die geteilten Früchte und über ein kleines, lachendes Kind.
Wir sitzen alle im selben Boot. Oder auf derselben LKW-Ladefläche.
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Leserpost
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Yvonne on 8. März 2018
Das ist so wunderschön beschrieben :) Herrliche Bilder!
Marcel on 1. April 2018
die Bilder, wunderschön. Schön geschrieben, mach weiter so!
Gruß Marcel
http://www.mein-Mallorca.org
Sophie on 8. Mai 2018
Wunderschön dein Reiseblog. Das ist wie Balsam für Seele und Auge zugleich!