Hangover in Amman
Junge
Daniel Anders erlebt eine denkwürdige Nacht in Amman, der Hauptstadt Jordaniens.
Eine Amsel singt in den stillen Abend. Das Gas vom Kocher zischt noch einmal auf, als ich es zudrehe und nach dem Topf mit den Nudeln greife. Heute: Die Ausführung „Chicken“ vom Asiamarkt. Dazu eine Handvoll Brombeeren, frisch gepflückt. Ein Apfel, vom Wegrand geklaut. Instantkaffee.
Mein Kopf ist voll Sommer und schwüler Feuchtigkeit. Zwischen den Bäumen ist es schon erstaunlich dunkel, während die Menschen draußen in der Stadt das Licht anschalten, denken, dass der Abend gerade einmal begonnen hat. Meiner wird dagegen gleich vorbei sein.
Als ich das erste Mal verbotenerweise in den Wäldern von Berlin-Köpenick zeltete, war ich nicht so entspannt. Da wusste ich noch nicht, wie leger hier mit so etwas umgegangen wird, und lauschte angestrengt den unbekannten Geräuschen.
Ich kam zu einer Zeit nach Berlin, als immer noch ständig gefragt wurde: Kommst Du aus dem Westen oder Osten? Gefragt haben nur die Wessis, die Ossis wussten immer schon Bescheid. Und ich – ich wusste überhaupt nichts.
In der Uni wurde über die Zulässigkeit dieser Frage diskutiert. Ostdeutsche beschwerten sich, die Frage sei übergriffig. Ich saß im Hörsaal der Humboldt-Universität und wunderte mich, schließlich war hier doch Ost-Revier. Und ich ahnte das erste Mal Gefühle von Demütigung und Entmündigung. Ohne Geld und mit genügend Fernweh im Kopf fing ich an, Afrikawissenschaften zu studieren.
Berlin liebte ich nicht sofort, sondern gewöhnte mich an die Stadt wie an einen alten, liebgewordenen Pulli. Ein bisschen dreckig, hier und da ein kleines Mottenloch, lässiger Sitz, die Farben verblasst, aber immer noch charmant.
Ich träumte von Reisen nach Kenia und Simbabwe, auf der Suche nach irgendetwas, während ich jeden Job annahm, der nur halbwegs mein Leben finanzierte. Ich kellnerte in Moabit in einer leeren Kneipe und musste dem Chef Bescheid geben, wenn verirrte Gäste mir Codewörter zuraunten. Ich verkaufte überteuerte Espressomaschinen an Lifestylebewusste und langweilte mich den ganzen Tag. Ich putzte in Architekturbüros, Drogerien und Fabriken. Ich machte das Frühstück im Hotel, las Heizungen ab und tackerte HTML für Uni-Projekte. Zwischendurch lief ich durch Berlin, weil zu Fuß die perfekte Geschwindigkeit war, um die Stadt kennenzulernen.
Ich mochte Berlin dort, wo es leiser war, weniger hip und mit mehr Berliner Schnauze.
Und wenn ich gestresst war, lief ich einfach weiter, über den ehemaligen Grenzstreifen hinweg.
Nur einen Job lehnte ich ab: den Verkauf von Currywurst und Pommes unten im U-Bahnhof Berliner Straße – mir war bereits nach dem Bewerbungsgespräch schlecht vom Frittengeruch. Den hatte ich schon zur Genüge, wenn der Freund mich mit dem Auto abholte, einem ollen, kuhfladengrünen Passat, der aus Kostengründen mit altem Frittenöl getankt war. Ich hasste den Geruch und liebte den Lifestyle, das war der Punk des Ostens, den ich verspäteter Wessi noch einmal riechen durfte.
Am Wochenende machten wir Ausflüge ins Umland, fuhren mit der alten Karre auf Landstraßen, neben denen die Apfelbäume blühten und auf Waldwegen, die eigentlich Förstern vorbehalten waren. Die Bremsen bissen uns beim Rudern durch die engen Havel-Seitenkanäle und wir schliefen im Auto hinten auf einer Matratze. Am Morgen malte ich Herzen in die beschlagenen Fensterscheiben.
Ich fragte meinen Freund, ob sie früher Telefon gehabt hätten und verstummte, weil die Frage plötzlich genauso dämlich klang wie jene, die mir in den USA gestellt worden waren. Ich fragte meine Kommilitonen, ob sie aus dem Westen oder Osten waren und ließ mir Geschichten von damals erzählen.
In der Uni hatte mich der Zufall auf ein Thema für meine Magisterarbeit gestoßen. Ausgerechnet in Mecklenburg fand ich im Keller eines alten Gutshofes die Zeichnungen namibischer Kinder, die in den 70er-Jahren als Hoffnungsträger für die bildungspolitische DDR-Elite aus Flüchtlingslagern in die DDR gebracht worden waren. Mein Studium hatte mich weit weg führen sollen, stattdessen führte es mich in die Hinterzimmer ehemaliger STASI-Genossen in Berlin-Pankow und ich lernte mehr über die Geschichte der DDR und Deutschlands Kolonialgeschichte als über Namibia.
Die Nudeln müssen noch quellen. Auf meiner Matte auf dem Waldboden lasse ich die Bilder des Tages passieren.
Das Warten auf den Anschlusszug am verlassenen Bahnsteig irgendwo in Märkisch-Oderland, die Gleise voller Löwenzahn. Die ersten Dahlien. Der Dreiseitenhof mit den leckeren Fischen im Aktenschrank aus Metall, umfunktioniert zum Räucherofen. Ein Selbstbedienungsstand mit Erdbeeren, Marmelade, Honig. Zwischendurch Felder und Wald. Begegnungen. Gespräche über damals und heute. Der See. Gedanken an gestern und an das erste Mal, als ich hier war.
Damals ging es mir nicht gut, ich lief meinen Sorgen davon durch den dicken Schnee, der in jenem Jahr nicht aufhören wollte. Ich lief durch den Grunewald und weiter zur Pfaueninsel, durch die Schorfheide und den Oderbruch. Ich lernte, dass ein Tomatenbrötchen ein schlechter Proviant für eine Wandertour bei minus 20 Grad ist und dass Schnee die Landschaft eigenartig still macht. Ich kam zur Ruhe, weg von der dreckigen, lauten Stadt. Ich meinte, die Bäume unter ihrer dicken Last ächzen zu hören.
Das Knarzen unter meinen Sohlen, das Glitzern der Eiskristalle auf dem Schilf, meine gefrorene Atemluft, ein erstarrtes Reh im weißen Feld – hallo. Ich hörte das erste Mal richtig zu. Hier passierte so viel Leben gleichzeitig. Und während mein Akku in Brandenburg erfror, wurde meine Welt klar und ich entdeckte die Langsamkeit, die Schönheit farblich reduzierter Landschaften und das Gefühl von Leben.
Die Amsel ist still. Nur noch ab und an piepsen ein paar Vögel. Das Knacken der Äste wird jetzt lauter. Ich fülle etwas Wasser in den leer gegessenen Topf und wische ihn mit einem Taschentuch aus. Morgen früh brauche ich den Topf für das Müsli. Noch ein bisschen hier sitzen und die Stille genießen. Die Geräusche erraten. Und mich eben doch ein kleines bisschen mutig fühlen.
Mutig. Genauso wie auf all den Reisen, die ich alleine machte. Während Berlin sich gentrifizierte und Kreuzberg unbezahlbar wurde, zog ich in eine kleine Wohnung nach Schöneberg und gab mein erstes Erspartes für Reisen aus. Nach der Märkischen Schweiz wanderte ich nun durch Schottland und anschließend durch Chile. Nach Tanzania entdeckte ich Grönland für mich. Bolivien. Kanada. Die Antarktis. Ich sah viel und lernte viel und versuchte, mir alle Bilder und alle Geschichten gut einzuprägen.
Aber woran erinnere ich mich wirklich?
Ich erinnere mich an den Duft des Nebels auf dem See am Morgen. An das Gefühl der Zeitlosigkeit, während das Floß leise durch die Havel gleitet. An Tautropfen im Gras und an Fensterbrett-Geschichten. An abgeblätterte Zäune vor alten Häusern und dicke Buchen. An Sonnenlicht zwischen den Fingern und 60er-Jahre-Einrichtungen in kleinen Datschen. An das Trompeten der Kraniche im Herbst, die über meinen Kopf hinweg fliegen.
Wie der Regen klingt, wenn er an einem Sommertag auf meine Kapuze tröpfelt. Wie sich Mohnblumen im Wind anhören. Dass Regen nichts mit schlechter Laune zu tun hat. Und ich erinnere mich an die Momente, in denen ich das lernte.
„Wat suchen Sie denn hier?!“
Ein Förster hat mich entdeckt, bzw. sein Hund, der mir begeistert und wild wedelnd die Hand ablutscht und überhaupt nicht wie ein Försterhund aussieht. Ich zögere mit meiner Antwort. Der Förster kommt näher, leuchtet mit seiner Taschenlampe mein Zelt und meine Kochstelle ab und schaut mich abschätzend an.
„Ich hab’s eigentlich schon gefunden“, erwidere ich und halte zögerlich meine Tasse Kaffee hoch.
Eine recht armselige Geste, denn die Tasse ist längst leer.
„Naja denn…“, grinst er und lässt die Lampe sinken.
„Aber lassense sich nicht wegklauen!“, ruft er noch, als er sich schon umgedreht hat und zügig davonläuft.
Daniel Anders erlebt eine denkwürdige Nacht in Amman, der Hauptstadt Jordaniens.
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