Das Essen hat mich träge gemacht. Unter karibischer Sonne schlummert so ein Wein länger hinter den Schläfen als im märzgrauen Deutschland. Warum eigentlich noch eine lange Hose tragen? Ich bin im Urlaub.
Als ich kurz davor bin, am nächsten Morgen noch vor dem Frühstück eine Liege mit meinem Handtuch zu bespannen, dringt ein sirenenhafter Widerhall der Lautsprecherstimme vom ersten Tag an mein Ohr. Der Blick wird wieder klar, die Kleidung angemessen. Neue Länder und Kulturen entdecken, ist das nicht doch die Mission?
Dominica ist der erste Halt auf dieser Kreuzfahrt, eine feuchtgrüne Dschungelinsel, auf der man Nachfahren von King Kong vermutet. Im Programm stehen 31 verschiedene Landausflüge. Wie wäre es mit der Busrundfahrt samt »kleiner Folkloredarbietung«? Entwürdigend für alle Seiten, schätze ich, und entdecke die Wanderung zum Sari-Sari-Wasserfall. Schwierigkeitsgrad vier, rutschiger Untergrund, festes Schuhwerk bitte. Sofort ist mir klar: Es handelt sich hier um den Mount Everest unter den Landausflügen, einen ramboesken Grenzgang durch undurchdringliche Wildnis. Regentropfen wie Trommelfeuer, Blutegel so groß wie Weinbergschnecken.
Am Ende soll es nicht ganz so schlimm werden. Zunächst fahren wir mit dem Ausflugsbus ins Landesinnere. Der lokale Guide Franklin entpuppt sich schon nach wenigen Kilometern als Vollprofi. Die älteste Frau auf Dominica sei 127 Jahre alt geworden, erzählt er. Wie sie das geschafft habe? »Sie war nie verheiratet.« Der Bus lacht.
Ein bisschen Stand-up-Comedy ist wichtig, das hat Franklin gelernt. Man muss die Leute abholen und aufwärmen. Der deutsche Urlauber schaut sonst oft so, als wollte man ihm ständig etwas unterjubeln – oder wegnehmen. Ich muss an eine Begegnung in einem Ferienflieger denken.
Eine Frau schließt ihren Gurt, offenbar empört vom geringen Sitzabstand, und sagt: »Die wollen uns fertigmachen.«
Die Welt als ständige Zumutung, Urlaub als Abwehrkampf.
Wir verlassen den Bus und dringen in den Dschungel Dominicas ein. Es geht sofort durch einen Fluss, dessen Strömung die Kraft hat, den einen oder anderen Urlauber von den Füßen zu holen. Wir bilden eine Menschenkette. Ausgestreckte Arme, zuversichtliches Nicken, nasse Hosenbeine bis zum Oberschenkel. Natur pur! Leuchtende Augen im Angesicht der Entbehrung. Wir schaffen es auf die andere Seite, ohne Kameras oder Gliedmaßen zu verlieren.
Die Route folgt nun dem Flusslauf hinein in die Wildnis, einen Weg gibt es nicht. Wir schlagen uns durch die urwüchsige Vegetation am Ufer. Nach zwei Stunden Marsch erreichen wir den Wasserfall, der so unzugänglich und verborgen im tiefen Wald liegt, als würde er ein mächtiges metaphysisches Geheimnis hüten.
Wie zu einer rituellen Waschung stelle ich mich in die Gischt des Wasserfalls. Der Schweiß wird davongespült und, so hoffe ich, auch ein wenig verdorbenes Fleisch. Denn habe ich nicht gesündigt? Habe ich nicht alle ungeschriebenen Regeln des Travellers gebrochen, die Gemeinschaft verraten? Pauschalurlaub, Kreuzfahrt, all inclusive: Jeder ernstzunehmende Backpacker zwischen Hanoi und Lombok würde Denguefieber und Passverlust vorziehen.
Doch ich habe vergessen, wohin ich zurückkehren werde. Es ist kein Hostel mit spartanisch reisenden Individualisten, die im spärlichen Licht der Gemeinschaftsküche von der Reifenpanne in Myanmar oder ihrer amour fou auf dieser kleinen kambodschanischen Insel erzählen. Sondern ein Kreuzfahrtschiff. In der Komfortzone des Massentourismus, auf dem Pooldeck, bin ich schon wieder guten Gewissens faul und bequem. Niemand muss mir Absolution erteilen.
Mehrere Mahlzeiten im Verlauf der einwöchigen Reise verbringe ich mit einer Frau Mitte vierzig, nennen wir sie Brigitte, und ihrem Ehemann. Beide werden noch die Transatlantikquerung bis Spanien mitmachen. Sie redet viel, er dafür umso weniger. Brigitte ist im allerkonventionellsten Sinne eine ganz normale Urlauberin. Keineswegs unsympathisch, aber so interessiert am Reiseziel wie Kim Kardashian an der Dialektik der Aufklärung.
Als ich wieder zu Hause in Deutschland bin, wird mir Brigitte eine E-Mail schreiben, in der sie auf die »tolle Reise« Bezug nimmt, auf der man sich »gut erholt« habe, »mit vielen tollen Eindrücken«. Man habe »nette Leute« kennengelernt, der letzte Abend an der Bar sei »noch recht feucht und fröhlich gewesen« (Zwinker-Smiley). In Funchal habe es geregnet, in Cádiz schien wieder die Sonne. Am Ende steht der Satz: »Der Alltag hat uns wieder.«
Ja, so reden und denken wahrscheinlich viele Menschen, die im besten Alter und finanziell abgesichert eine Kreuzfahrt in der Karibik machen. Für die Ferne brauchen sie einen Reiseveranstalter oder gleich ein eigenes Schiff, da fühlt man sich doch wohler. Möge man sie bitte nicht behelligen mit irgendwelchen unschönen Realitäten vor Ort. Armut, mangelnde Hygiene oder einfach nur die perspektivlose Langweile der ungebildeten Schwellenländer-Jugend. Bitte, Schluss, abschalten, wo ist die Fernbedienung? Bevor ich zynisch werde, lasse ich ab dem dritten Abend an Bord die Drinks weg.
Ich weiß auch, ich bin Brigitte gegenüber ungerecht. Ich habe eine arrogante Haltung. Andererseits muss die Frage erlaubt sein: Muss man wirklich CO2 über dem Atlantik verteilen und in der Karibik von Insel zu Insel tuckern, wenn man vom Reisen nicht mehr will als Erholung, und sich die Werlterfahrung auf die indifferente Erinnerung »toller Eindrücke« reduziert?
Tut es da nicht die Adria oder Tirol?
Diese Frage könnte ich auch mir stellen, der ich auf dieser Kreuzfahrt gerade kein Entdecker sein wollte, sondern einfacher Urlauber – aber was heißt das schon? Die Welt ist ja entdeckt. Ob man die Grenzen der Erde ablaufen muss, um sich selbst hinreichend auszuforschen, wage ich zu bezweifeln. Manchmal vielleicht.
Seien wir ehrlich, Reisen kann eben alles sein. Spaß, Erholung, Zerstreuung, Flucht, ein verfluchter Geschäftstermin. Resort-Urlaub im Luxushotel, weil sich das vor den reichen Freunden so gehört: ein Statussymbol. Porsche, Pool, Polynesien. Oder eben Instagram, GoPro, Live-Stream: Reisen als große Selbsterzählung, Baustein der Identität, Ausweis eines vermeintlich interessanten Lebens. Der Ethnologe, der Entwicklungshelfer, der Krisenreporter: Reisen als Mittel zu einem höheren Zweck, gar zur Selbstverwirklichung? Schwieriges Wort. Leidenschaft gefällt mir besser.

In der Karibik kaufen manche Reedereien Privatinseln, um die Urlauber noch besser von der Welt abseits des Pauschalpakets abzuschirmen. Auf einer Massenkreuzfahrt in diesen Gewässern ist das neugierige Erkunden geradezu eine Unmöglichkeit. Ich hatte es ja befürchtet. Auch der Ausflug auf Dominica endete nur wieder im Bauch des Schiffes. Ausbruch nicht vorgesehen. Also Kurs halten und es noch einmal versuchen: einfach nur Urlauber sein.
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Leserpost
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Gitti Müller on 25. November 2017
Hallo Philipp,
großartig geschrieben, ich habe mitgelacht und mitgelitten. Ich schätze mal, ein Highlight der Reise war das Einlaufen in den Zielhafen und von Bord gehen (-;
LIebe Grüße von Gitti
Martin on 28. November 2017
Die Runtravelgrow-Seite ist falsch verlinkt (com statt de).
Johannes Klaus on 29. November 2017
Danke, ist korrigiert!
Alex Sefrin on 3. Dezember 2017
Hallo Philipp!
Einfach nur göttlich geschrieben!
Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, ob ich so eine Schiffsreise machen würde, wenn ich sie geschenkt bekommen würde. Vielleicht muss man es erst erlebt haben, um wirklich mitreden zu können, aber Deine Beschreibungen sind genau so, wie ich mir das Leben an Board und die Ausflüge vorstelle. Einfach nur gruselig!
Es gibt einfach Erfahrungen, die muss man nicht selbst gemacht haben.
Liebe Grüße
Alex
simone on 5. Dezember 2017
Sehr unterhaltsam geschrieben – aber ehrlich gesagt auch sehr überheblich.
Wir finden, dass die Menschen sich eben auf unterschiedliche Arten erholen, abhängig vo Alter, Interessen, Gesundheit o.ä. und keine Art ist besser oder schlechter als die andere.
Viel wichtiger ist doch, dass man erholt und gesund aus dem Urlaub wieder zurück kommt. Wie jeder das erreicht, ist doch egal.
Trekking in Tibet, Sonnen auf Mallorca, Kreuzfahrt oder eben Balkonien – wer darf bewerten was besser ist und sich über andere lustig machen???
Philipp on 29. Dezember 2017
Liebe Simone,
was soll ich sagen? Ja, der Text ist sicherlich überheblich. Aber die Läuterung folgt ja am Schluss.
Natürlich kann jeder reisen, wie er möchte. Wer bin ich, Leuten irgendwas vorzuschreiben? Will ich gar nicht. Mein Eindruck war aber, dass die meisten Mitreisenden wirklich nicht am Reiseziel interessiert waren. Sie haben halt Sonne und Erholung gesucht – hier noch mal der Verweis auf den Umweltaspekt. Das kann man kritisieren.
Im übrigen finde ich, man darf und sollte sich über (fast) alles lustig machen! Wo kämen wir bitte hin, wenn man über Dinge nicht mehr spotten könnte?
Viele Grüße, Philipp
Morten und Rochssare on 29. Januar 2018
Heute haben wir irgendwo im Süden Myanmars am Strand unter Palmen gelegen, durch die Travel Episodes geblättert und deine Geschichte gelesen. Großes Storytelling von jemandem, der gar keinen Bock hat :-) Phänomenal!