„Und jetzt macht Euch bereit für den Schweinetanz!“, befiehlt die Sängerin.
„Oh, der Schweinetanz. Anstrengend“, murmelt eine Tänzerin neben mir. Ihr Mann nickt nur. Wie die meisten Leute in den Vierergruppen auf dem großen Tanzboden. Die Band legt los, eine flotte Polka, die Sängerin zählt acht Takte ein, und dann: Schweinetanz!
Zweimal langsam hüpfen, dreimal schnell hüpfen, dabei abwechselnd das rechte und das linke Bein in die Mitte des Tänzer-Quadrats werfen. Einmal klatschen, dann alle so: rechten Arm nach innen, Armquadrat bilden, vier Takte lang nach links im Kreis tanzen, klatschen, anders herum, und wieder von vorn: Hüpf! Hüpf! Hüpf, hüpf, hüpf!
Strahlende Gesichter auf dem Tanzboden. Die große Bohlenfläche liegt im Park des Kulturzentrums Ziemeļblāzma (Polarlicht). Es ist vier Tage vor Līgo, dem nationalen Feiertag zu Sonnwend, und schon jetzt sind die Leute aus dem Häuschen. An Līgo am 23. Juni ist das Programm klar: Es wird am Lagerfeuer die ganze Nacht getanzt, gefeiert, viel Bier getrunken und ein würziger Käse mit viel Kümmel gegessen. Sich vorher schon mal warm zu tanzen gehört dazu. Die einfachste Form des „Schweinetanz“ kann jeder sofort lernen und mitmachen, und jeder, der dann noch nicht zu viel getrunken hat, kann sie an Līgo auch den anderen beibringen, wenn die noch nicht zu viel getrunken haben.

An dem Tanzabend im Park von Ziemeļblāzma gibt es keine Getränkestände, nur einen Dekobierkrug aus Montageschaum. Das Kulturzentrum liegt ganz am Stadtrand von Riga, hat seine eigenen Tanz-Dauergäste, und an diesem Abend kommen auch Gruppen aus anderen Stadtvierteln. Viele junge Familien sind da. Kleinkinder, die kaum laufen können, wollen schon mittanzen.
Das klingt alles furchtbar nach Folklore. Ist es auch, aber Folklore ist in Lettland nicht kitschig oder uncool, sondern eine ernste, gar staatstragende Sache. Es lohnt sich, etwas tiefer zu blicken. Volkstänze, Trachten aus Leinen und Volkslieder, Bänder und Gestricktes mit traditionellen Wurzeln – darauf baut die moderne lettische Kultur und Identität. Das klingt jetzt wiederum furchtbar pathetisch, ist aber so.
Was „Lettisch“ ist, mussten die seit Jahrhunderten fremdregierten Letten erst um die Wende zum 20. Jahrhundert für sich definieren. Da blieb außer der Sprache vor allem das, was heute nach Folklore klingt. Daher wurden die Lieder, Tänze, Gedichte und Sagen, die bäurischen Trachten und die traditionellen Muster integraler Bestandteil der lettischen Identität, und sie sind es nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion wieder geworden. Gemeinsames Singen und Tanzen – und gemeinsam heißt, dass da auch ein paar zigtausend Leute zusammenkommen können – ist eine Sache des nationalen Kulturguts.
Im Lied, im Gedicht und im Muster bilden sich die lettische Seele und der lettische Kosmos ab, so die Überzeugung.
Der Gesangstag im Sommer ist mindestens so wichtig wie das Līgo-Fest, und beim Singen und Tanzen entbrennen die sonst so stoischen Letten in ein Emotionsfeuer aus zuckersüßer Melancholie, überquellender Liebe zu allem in der unmittelbaren Umgebung und dem Universum als solchem, nicht zu bändigender Lebenslust, die dringend nach Schnaps und Bier verlangt, weil sie den Menschen sonst von innen verzehrt. Dies alles im Rhythmus von Polka und Galopp.
Wenn die Herzen der Letten einmal brennen, dann lichterloh. Entflammbar sind sie nur schwer.
Gelassenheit bis hin zur äußeren Emotionslosigkeit das Ziel der Selbstpräsentation. Coolness heißt das anderswo.
Gäbe es nicht diese hochemotionalen Gedichte, die jauchzenden Volkslieder, die ebenso jauchzend mitgesungen werden, und die herzzerreißenden Schlager, man müsste die Letten für einen Haufen stumpfer Langweiler halten. Sind sie aber natürlich nicht, das sind in den Augen der Letten die Litauer und die Finnen.
Um kein Klischee auszulassen: Ein lettischer Mann heißt im Zweifelsfall Jānis (Johannes, Namenstag am 23. Juni) und eine Frau Liga (die an Mittsommer geborene, Namenstag am 24. Juni) – die Namen sind ausgesprochen häufig, und wieder geht es um Līgo, das große Sommerfest, das an genau diesen Tagen steigt. Dessen Name, man weiß es nicht genau, könnte übersetzt bedeuten: Tag, an dem gesungen wird. Oder auch: Tag, an dem man schwankt. Kein Witz.
Das Fest braucht jedenfalls große Vorbereitungen, die über die Tanz-Übungsstunde hinausgeht. Es ist fast wie zu Weihnachten. Die Supermärkte erweitern ihr Sortiment um besonders viele Bierkrüge – sogar bayerische Maßkrüge sind zu sehen. Fackeln, dicke Kerzen, Grillausrüstung, Mückenspray, Schlager-CDs, Plastikgeschirr, auch Regen-Pelerinen und Gartenschirme sollen helfen, die Nacht zum Tag zu machen.
In der Frischwarenabteilung werden ganze Kühltruhen für Bratwürste und den Ķimeņu Siers, den Kümmelkäse, reserviert. Mittsommer ohne diesen Käse wäre wie das Münchner Oktoberfest ohne Brezen.
Wer den Kümelkäse zu Līgo nicht selbst herstellt, geht auf einen der vielen Līgo-Märkte. Der größte ist direkt am Domplatz in der Rigaer Altstadt und bietet Käse, Schinken, Honig, Handgeschnitztes. Besonders angesagt sind gerade handtellergroße traditionelle Ornamente aus Holz; sie sehen aus wie eine Kreuzung aus Runen und den Bruchstücken eines umgefahrenen Jägerzauns.
Das Wichtigste aber sind die Blumen.
In Plastikkübeln. In großen Garben. Auf Dreiecksständern. Marktfrauen binden Kränze aus Kornblumen, Mohnblumen und Margeriten für die Damen. Männer mit großen Kronen aus Eichenlaub verkaufen Eichenlaub an andere Männer, damit auch diese am Festtag Sommerkönige sind. Nach dem Sprung übers Feuer gehen sie dann mit den Damen im Unterholz „Farnblüten suchen“, noch so ein archaischer Brauch, für den es nach einigen Litern Bier tatsächlich die Kraft von Eichen braucht.
Auf einem Podium am Markt singen Kinder im Chor. Birkenzweige und ein Plakat mit Margeriten sind das Bühnenbild. Kinder und Jugendliche singen und tanzen. Hüpf, hüpf. Die Eltern sind begeistert. Einigen alten Damen stehen Tränen in den Augen. Da lodert es, das lettische Feuer – schon Tage, bevor die eigentlichen Johannisfeuer brennen.
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Leserpost
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Robert on 30. August 2015
Grandios, Deine Multmedia-Reise in eines meiner Lieblingsländer. Bin begeistert und würde am liebsten gleich wieder losfahren! Ich staune immer wieder, wie viel Arbeit Leute kostenlos ins Netz stellen.Gerade stelle ich mir die vielen Stunden vor, die Du an diesem Werk gesessen hast… . Eins stimmt meines wissens nicht: „Hätten alle russisch-stämmigen Bürger Lettlands das volle Wahlrecht, wären sie im Land in der Mehrheit und könnten einen „Lexit“ hinlegen. “ In Riga sind ca. 40% der Einwohner „Russen“, am Land rund 1/4, also keine Mehrheit.
Felicia on 31. August 2015
Hi Robert,
freut mich, dass Dir die Geschichte gefällt. Das Problem ist, dass die Bevölkerungsstatistik, die Du zitierst, die offizielle ist, also die Statistik, die die „Nepilsons“ nicht mitzählt – die russisch-stämmigen Leute, die keine Staatsbürgerschaft haben und daher auch beine Bürger sind. In Städten wie Daugavpils ist die Bevölkerung zu fast 90 Prozent russischstämmig, Nepilsons und russischstämmigen Letten zusammengenommen. Die Info habe ich jedenfalls von Bügerrechtlern bekommen: 53 Prozent der Bürger seien in diesem Sinne russischstämmig. Einen aktuellen offiziellen Zensus gibt es leider nicht.
Beste Grüße
Felicia
Linda Moser on 7. September 2015
Grandios! Eine der interessantesten und bewegensten Seiten die ich lange gesehen habe. Weiter so! Wirklich, wirklich berührend schön!
Linda Moser, aus Brackenheim
http://www.moser-designs.de