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The Travel Episodes

Bild Geistersatd

„Wer spricht hier französisch?“, ruft der Soldat durch den Bus, seine Kalaschnikow fest in der Hand. „Ich!“, höre ich mich rufen und bereue es noch im selben Moment. „Mitkommen!“ Ich steige aus unserem klapprigen Minibus und werde von fünf Soldaten in eine kleine Hütte gebracht. „Habt ihr Gras dabei?“, fragt mich der eine. „Wir haben Gras gerochen“, sagt der andere. „Nein“, entgegne ich und frage mich, ob es klug war, jetzt zu lügen. Ich rede mich heraus, erkläre, dass wir alle hier arbeiten, schon länger hier sind, bringe blöde Witze, die die Soldaten mit ihren in Stein gemeißelten Gesichtern nicht lustig finden. Ja, wir haben Gras dabei, das weiß ich und das wissen die Soldaten ebenso. Ich gebe ihnen Geld. Wie viel der zerknüllte Schein wert ist, den ich glücklicherweise gerade in meiner Hosentasche finde, weiß ich nicht. Aber es scheint zu reichen, um mich wieder gehen zu lassen. Ich bekomme eine Kalaschnikow-Eskorte zurück in unseren Bus. Mein Freund Titi gibt Gas. Keiner sagt ein Wort.

Mir stehen die Schweißperlen auf der Stirn.

Wir sind auf dem Weg von Grand Bassam, einer Hafenstadt im Süden der Elfenbeinküste, nach Yamoussoukro, das etwa 250 Kilometer nördlich von uns liegt. Eine Strecke, die wie ein Minenfeld aus Militär- und Polizeistützpunkten funktioniert. Überall sind sie, man sieht sie kaum, und wenn, dann ist man ihnen ausgeliefert – ihnen und der Korruption. Titi und sein Bruder Richard rasen die Straße entlang, bis die kleine Hütte am Militärstützpunkt im Staub des trockenen Highways verblasst. Dann drehen sie sich einen Joint und lachen. Herzlich, als wäre nichts gewesen.

 

Dann sind wir am Ziel.

Die Straße ist leer. Kein einziger Mensch läuft hier entlang. Einzig die tausend Laternen gehen artig ihrem Dienst nach – und das schon seit über 30 Jahren. Wir sind völlig allein. Selbst Autos gibt es hier nicht. Dabei ist die Straße so breit, dass sie fast die Champs-Élysée Westafrikas sein könnte – nur eben ohne Touristenmassen, ohne prunkvolle Gebäude und hupende Autos. Dafür ist sie zwei Meter breiter als jene in der französischen Hauptstadt. Auch der landestypische Duft nach frischer Gemüsesuppe, gegrilltem Fisch oder dem ivorischen Bananenbrei Foutou erreicht die Straße nicht. Wir stehen mitten in Yamoussoukro, der sterbenden Hauptstadt der Elfenbeinküste.

Yamoussoukro ist das gescheiterte Monsterprojekt eines größenwahnsinnigen Mannes, der die absurde Idee hatte, sich aus dem Nichts heraus seine eigene Großstadt zu bauen: Félix Houphouët-Boigny. Der ivorische Gründungsvater und erste Staatspräsident des Landes war von 1960 bis 1993 an der Macht.

Im Gegensatz zur pulsierenden Stadt Abidjan im Süden kann sich die Hauptstadt vor allem mit einem Fakt rühmen: Houphouët-Boigny wurde hier geboren.

Grund genug, diese Stadt zum Zentrum des Landes zu machen und ihr eine komplette Rundumerneuerung zu verpassen.

Ich flaniere die breite Straße entlang, obwohl es eigentlich nichts zu flanieren gibt. Die vollklimatisierten Restaurants sind leer, genau wie die Wohnhäuser und Regierungsgebäude. Hätte ich eine Stecknadel dabei, dann würde man sie jetzt wahrscheinlich fallen hören. Yamoussoukro ist eine Geisterstadt. Eine Stadt des Wahnsinns, wenn man sich die viel zu groß geratenen Häuser und Straßen anschaut. Und das in einem Land, das an jeder Ecke Hilfe und Unterstützung braucht: 61 Prozent der ivorischen Bevölkerung sind Analphabeten, 43 Prozent der Bevölkerung lebt von weniger als 250 Euro im Jahr und liegt damit unter der Armutsgrenze.

 

Thriller in Notre Dame

Wir fahren weiter, bis ans Ende der Straße und bis wir die riesige Kuppel einer Kathedrale sehen, die unnatürlich aus dem Nichts herausragt. „Notre-Dame-de-la-Paix“, unsere liebe Dame des Friedens, steht da in ihrer vollen Pracht – riesig, überdimensional und mit Algen auf den Stufen, die den langsamen Zerfall anzeigen. Ich bekomme Nackenschmerzen, als ich meinen Kopf nach hinten lege und zur Spitze der Kuppel blicke. 128 Meter hoch ist die Kathedrale und damit 26 Meter höher als der Petersdom in Rom. Im Vergleich zum Touristenmagneten des Vatikans steht dieses Exemplar allerdings menschenleer und seinem Verfall überlassen. Niemand, wirklich niemand ist hier und das war auch nie anders. Die Kathedrale kann weder zum Heiraten noch für Trauerfeiern genutzt werden, auch Gottesdienste gibt es hier keine. Eine Kathedrale ohne Funktion, für knappe 130 Millionen Euro. Nur zweimal gab es hier einen wirklich großen Menschenauflauf: 1990 kam Papst Johannes Paul II höchstpersönlich in die Kathedrale und ehrte sie, wenn auch eher widerwillig. Und zwei Jahre später kam der King of Pop, Michael Jackson. Er reiste Anfang 1992 in die Elfenbeinküste, um seine afrikanischen Wurzeln zu erforschen und ließ sich dabei nicht nur zum Prinzen des Königreichs Sanwi im Dorf Krindjabo im Südosten der Elfenbeinküste ernennen, sondern auch vom Präsidenten höchtspersönlich durch die Kathedrale von Yamoussoukro führen. Eine Ehre.

 

Mama Africa hat aufgetischt

Titi startet den Motor. Er hat Hunger. Ich auch. Doch ich frage mich, wo man in einer verlassenen Stadt etwas zu essen bekommt. Weit und breit gibt es kein Restaurant, das so scheint, als hätte es tatsächlich etwas Essbares in der Küche. Einzig die Speisekarten sind üppig gefüllt. Doch Titi weiß, wo wir hin müssen. Wir verlassen den riesigen Highway und machen uns auf den Schotterstraßen von Yamoussoukro auf in Richtung Dschungel.
 
 

 
 

Hier leben sie also, die Bewohner der Hauptstadt.

Einige von ihnen sind schon seit der Ära von Houphouët-Boigny hier. Sie sind damals gekommen, als der ehemalige Präsident ihnen ein glorreiches und prunkvolles Leben versprochen hatte, mit einer Ausbildung und Arbeit für alle. 400.000 Menschen wollte er damals in der Hauptstadt ansiedeln. Heute leben hier knapp 280.000, die meisten davon sind zugezogene Bauern aus den umliegenden Gebieten der Savanne. Aber nicht alle. Die alte Dame zum Beispiel, die hier, 10 Minuten entfernt von der großen, achtspurigen Straße, mit voller Hingabe ihr kleines Restaurant leitet, ist schon von Anfang an hier. Maria ist eine echte Einheimische und begrüßt uns mit einem breiten Lächeln – so breit, dass man ihr kaum ansieht, wie schwer das Leben hier in Yamoussoukro eigentlich ist. Sie ist bestimmt über 60 Jahre alt, gekleidet in einem bunten, für die Elfenbeinküste typischen Ensemble aus Oberteil und langem Rock. Beides ganz schön knapp, natürlich, aber so muss es sein. Ihr Restaurant läuft gut. Hier sind sie also, die Menschen, die ich vorher noch auf den Straßen vermisst habe.

Maria freut sich über weißen Besuch. Touristen, die sich nach Yamoussoukro und dann auch noch in ihr kleines Restaurant verirren, die gibt es wirklich selten. Übermütig zieht sie mich deshalb in ihre Küche. Traditionell sind die Küchen in der Elfenbeinküste außerhalb des Hauses. Es ist verpönt dort zu kochen, wo man abends auch schläft. Eine Sache, die Ex-Staatspräsident Houphouët-Boigny auch nicht bedacht hat, als er die Wohnhäuser für seine gewünschten Bewohner gebaut hat: Apartments, die an westliche Wohnungen erinnern und in denen alles falsch ist, was in Wohnungen in dieser Region nur falsch sein kann. Kein Wunder, dass die Menschen diesen Wohnungen den Rücken zugekehrt und stattdessen einfache Lehmhütten auf den Freiflächen der Stadt errichtet haben. Gekocht wird draußen, vor dem Haus, so auch hier im Restaurant von Maria.

Wir stehen in ihrer Küche und sie präsentiert mir stolz, was gleich in meinem Tonteller landen wird: Agouti, Buschratten – eine ivorische Spezialität. Vor mir häuft sich ein riesiger Berg der Tiere, aufgetürmt wie nasse Kleidung. Angeekelt versuche ich mir ein Grinsen ins Gesicht zu drücken, ein Vorhaben, das erst mit dem Anblick der alten Dame leichter fällt, die jetzt voller Inbrunst in den Rattenberg greift und zwei ihrer Prachttiere herauszieht.

Minuten später stehen sie vor uns: Gekochte Agouti in einer Sauce des Hauses. Titi freut sich. Das hat er schon lange nicht mehr gegessen. Ich muss mich überwinden.

In meiner Suppe (?) schwimmt der Kopf der Ratte, noch klar als solcher zu erkennen.

“Das willst du nicht, oder?”, fragt mich Titi und schnappt sich den Kopf, um ihn Stück für Stück auszulutschen. Ich bleibe bei den Fleischstücken, die, wenn ich nicht gerade das Bild des Buschrattenhaufens im Kopf habe, fast an eine Mischung aus Lamm und Hähnchen erinnern. Ein Glück ist die Sauce so scharf und würzig. Eine natürliche Ablenkung – für Kopf und Geschmacksknospen. Maria schaut, während wir essen, immer wieder zu uns herüber und freut sich sehr, als sie unsere leeren Teller abräumt. Dass das meiste von meinem Teller bei Titi gelandet ist, das hat sie nicht gemerkt.

Für mich ist die Szenerie in diesem Moment vor allem eines: ein Stück Leben in einer Stadt, die schon längst jegliche Lebendigkeit verloren hat. Auch wenn das kleine Restaurant der alten Dame abseits der eigentlichen Hauptstraße im Busch liegt, stellt es doch genau das dar, was ich mir immer unter der Elfenbeinküste vorgestellt hatte: Ein Sammelsurium aus Menschen mit einem Dauergrinsen, so groß, dass es fast die Ohren erreicht. Leben – das ist auf den Straßen von Yamoussoukro längst abhanden gekommen, oder hat nie stattgefunden.

 

Leichenschmaus im Krokodilgraben

Halt – ein bisschen Leben, wenn auch etwas befremdlich, gibt es rund um den Palast des ehemaligen Präsidenten herum. In den Gräben schwimmen unzählige Krokodile, die alle Houphouët-Boigny schützen sollten.Vor den erhofften Menschenmassen, die nie kamen. Jetzt ist Houphouët-Boigny tot, er starb 1993, und die Krokodile schwimmen ihre gewohnten Runden. Titi und Richard grinsen breit. Sie wissen genau, was jetzt kommt. „Ey, groß oder klein?“, fragt mich ein Ivorer, der am Krokodilgraben steht. „Groß“, antworte ich. Im nächsten Moment fliegt ein riesiges, lebendiges Hühnchen in den Graben und wird schon in der Luft von den Krokodilen zerrissen. Umgerechnet zwei Euro haben wir für das Huhn bezahlt. Eine kleine Einnahmequelle in einer Stadt, die einmal Milliarden Euro im Aufbau gekostet hat und nun komplett leer ist. Und eine große Freude für alle Ivoren, die sich immer wieder aufs Neue freuen, wenn ein Hühnchen nichtsahnend den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen wird.

Surreal, wie alles in Yamoussoukro.

Wir lassen die Leere von Yamoussoukro hinter uns. Damit verschwinden die einzigen Touristen, die sich seit langer Zeit mal wieder in die sterbende Stadt gewagt haben. Wir machen uns auf den Weg Richtung Süden. Dorthin, wo es keine Straßen gibt, sondern Sandwege. Dorthin, wo Hühnchen nur auf dem Grill und dann auf dem Teller landen. Und wo manchmal so viel Leben auf der Straße ist, dass man sich fast nach ein bisschen Ruhe sehnt.

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Anne Steinbach schreibt für ihr Leben gern, wenn sie nicht gerade reist und reist leidenschaftlich, wenn sie nicht gerade schreibt. Momentan ist Anne auf Weltreise und zieht in 3,5 Monaten durch 13 Länder – auf der Suche nach Menschen und Orte mit besonderen Geschichten. Denen lauscht sie am liebsten bei einem viel zu starken Kaffee.

Leserpost

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  • Norah on 21. Juni 2017

    Hab die Stadt gleich mal in der Google Bildersuche eingegeben. Die Kathedrale, die breite Strasse… oh mann, oh mann… Sehr spannend etwas über einen Ort zu erfahren, von dem man nicht die leiseste Ahnung hat, dessen Namen man noch nie zuvor gehört hat! An solche Orte fahre ich auch gerne. Auch wenn die Geschichten, die dort verborgen liegen manchmal traurig sind.

  • inka on 22. Juni 2017

    Ohgott, das ist ganz großartig geschrieben! Ich habe mit im Auto gesessen – hat mich sehr an frühere Zeiten, Gerüche, Gedanken erinnert. Danke für diese tolle Episode Anne!

  • Anja on 21. Dezember 2018

    Das ist ein schrecklicher Bericht zu Yamoussoukro. Ich hätte gerne gewusst, WANN die Autorin in Yakro war. Ich habe dort über 6 Monate gelebt (2017/2018) und die Stadt ist weder leer (habe sie NIE leer erlebt, ausser vielleicht man läuft abends unwichtige Strassen entlang (das passiert einem aber in jeder Stadt) und ganz sicher nicht sterbend! Die Menschen sind arm und die breiten Strassen, der Riesendom (der grösste der Welt) und die 1970er-Wohnhäuser wirken bizarr – wirklich wahr. Aber Yakro hat auch Charme: z.B. der riesige überdachte Markt, die kleinen Buvettes am Strassenrand (wo bitteschön sind die klimatisierten Restaurants? Wo genau hat sich die Autorin aufgehalten?). Die Stadt hat eindeutig ein städtebauliches Problem, aber man hat sich arrangiert und lacht über Abidjan, wo immer Stau herrscht.
    Die Autorin, leider in meinen Augen arrogant, abwertend, mit einem klaren „wir klugen Weissen, ihr armen Schwarzen-Duktus“ hatte anscheinend keine einzige einheimische Person befragt und absolut keine Lust gehabt, sich auf die Stadt einzulassen… sehr schade! Ich kann das bizarre Bijou nur empfehlen. Ich liebe diese Stadt!

    • Britta on 11. November 2019

      Danke Anja, für deinen Kommentar! Wirklich, ich war erst vor zwei Wochen in Yamoussoukro. Die Stadt ist ganz bestimmt keine Geisterstadt. Sie hat sogar einige sehr schöne Seiten, die man von westafrikanischen Städten meist nicht kennt. Sie stimmt halt einfach in vielen Punkten nicht mit dem stereotypischen Denken über Westafrikas Städte überein: Teiche mit Seerosen in der Stadt, gigantische, imposante Bauwerke, eine gewisse Ordnung. Klar, die Dimensionen stimmen nicht, die Prachtbauten passen irgendwie nicht hierher und das die Investitionen nicht im Einklang mit dem Land und dessen grösstenteils ärmlichen Bevölkerung stehen ist ein Unding. Aber auch das ist eben Westafrika – wer das Sagen hat, hat das Geld und die Macht sich die Welt zu machen wie sie ihm gefällt (mal etwas plakativ und überzogen formuliert). Ich mag Yakro und finde die Hauptstadt der Elfenbeinküste ist unbedingt einen Besuch Wert.

  • Sabrina on 1. August 2020

    Ist es nicht ganz schön naiv, in fremden Ländern mit Gras durch die Gegend zu fahren? Das hätte mancherorts (Korruption hin oder her) ganz anders ausgehen können.

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